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Fall Aiwanger: Historiker Michael Wolffsohn im Interview

Interview

"Wer zu Recht Joschka Fischer Jugendsünden verzeiht, muss das auch Aiwanger zugestehen"

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    Aus dem Gröbsten raus? Der bayerische Wirtschaftsminister Hubert Aiwanger bleibt trotz der Affäre um menschenverachtende Flugblätter im Amt.
    Aus dem Gröbsten raus? Der bayerische Wirtschaftsminister Hubert Aiwanger bleibt trotz der Affäre um menschenverachtende Flugblätter im Amt. Foto: Matthias Balk, dpa

    Der bayerische Ministerpräsident Markus Söder hat verkündet, seinen Stellvertreter im Amt zu belassen. Ist das die richtige Entscheidung?

    Michael Wolffsohn: Richtig für wen? Für Deutschland ja, denn Strafe ohne erwiesene Tat widerspricht fundamentalen europäischen beziehungsweise christlich-jüdischen Werten. Gleiches gilt für Reue, die von Aiwanger gefordert wird. Bereuen kann man nur eine begangene Tat. Auch für die CSU war es die richtige Entscheidung. Denn: Die Freien Wähler sind jetzt erst recht als Koalitionspartner erheblich bequemer als die Grünen. 

    Wie beurteilen Sie das Vorgehen Söders, Aiwanger schriftlich 25 Fragen zu dem Sachverhalt zu stellen und dann zu handeln, obgleich die Antworten ja kaum Neues brachten?

    Wolffsohn: Das ist methodisch und ethisch eine absolut richtige, saubere Vorgehensweise: erst die Fakten, dann die Bewertung. Alles andere erinnert an Pontius Pilatus. Der hat bekanntlich die Volksjustiz entscheiden lassen, also die klassische Methode von Unrechtsstaaten. Zur Zeit des millionenfachen Judenmörders Hitler hieß das „gesundes Volksempfinden“. 

    Michael Wolffsohn kritisiert, dass in der Causa Aiwanger mit zweierlei Maß gemessen wird.
    Michael Wolffsohn kritisiert, dass in der Causa Aiwanger mit zweierlei Maß gemessen wird. Foto: Ulrich Wagner, dpa

    Sie haben Hubert Aiwanger Anfang der letzten Woche in der Bild-Zeitung verteidigt. Doch seitdem ist es dem stellvertretenden Ministerpräsidenten nicht wirklich gelungen, die Vorwürfe um das judenfeindliche Flugblatt auszuräumen. Halten Sie sein Agieren für glaubwürdig?

    Wolffsohn: Ich habe Herrn Aiwanger weder verteidigt noch attackiert. Ich kenne nämlich die Fakten so wenig wie alle anderen, mit Ausnahme der Brüder Aiwanger. Für mich gilt der europäische, urzivilisatorische Wert: „Im Zweifel für den Angeklagten.“ Verdachtsjournalismus, der sich außerdem zunächst anonymer Quellen bedient, also Denunzianten, ist inakzeptabel. Wer gegen diesen urzivilisatorischen Wert verstößt, predigt Wasser und trinkt Wein. Was ich finde, ist egal, Fakten zählen. Es geht um noch einen europäischen Urwert: nicht mit zweierlei Maß messen. Wer zu Recht die Jugendsünden von Joschka Fischer, Winfried Kretschmann, Jürgen Trittin oder Daniel Cohn-Bendit verzeiht, muss das auch Aiwanger zugestehen. Willy Brandt war Außenminister unter Kiesinger, der NS-Propagandaminister Goebbels gedient hatte. Als Jude erinnere ich meine christlichen Mitbürger ans Neue Testament: Aus Saulus wurde Paulus. Umkehr zählt zu den ethischen Grundlagen des jüdisch-christlichen Abendlandes, das so viele so gerne im Munde führen, ohne dessen Ethik wirklich zu kennen. 

    Nicht alle Beobachter sind davon überzeugt, dass der Bruder tatsächlich der Verfasser des Pamphlets ist. Schließlich ist Aiwanger damals bestraft worden, nicht sein Bruder.

    Wolffsohn: Jede Meinung und Einschätzung ist dankenswerterweise grundgesetzlich geschützt. Das bedeutet jedoch nicht, dass sie richtig wäre. Nochmals: Fakten, Fakten, Fakten. Und gewiss nicht Sippenhaft. 

    Aiwanger beklagt eine Kampagne gegen sich. Doch hat er nicht selbst seine Reputation durch widersprüchliche Einlassungen beschädigt?

    Wolffsohn: Ein Narr, wer glaubt, es wäre keine Kampagne. Der oder die vermeintlich Wissenden wussten das alles seit 1988. Erst jetzt, 2023, gehen sie damit an die große Öffentlichkeit. Jetzt, da Aiwanger und seine Partei mit einem großen Wahlerfolg rechnen konnten. Für wie manipulierbar halten diejenigen die Öffentlichkeit, die bestreiten, es wäre eine Kampagne? Vom „mündigen Bürger“ sprechen diese Leute, sie glauben aber definitiv nicht an ihn. 

    Sie haben das Flugblatt „menschenverachtend“, aber nicht „antisemitisch“ genannt. Das sehen Vertreter der jüdischen Gemeinde allerdings völlig anders. Können Sie Ihre für viele überraschende Differenzierung kurz erläutern?

    Wolffsohn: Als Historiker lese ich Texte und interpretiere sie textgetreu. Nach Hintergedanken muss man freilich dabei suchen. Man kann sie jedoch nicht als Faktum präsentieren. Auch hier halte ich mich an einen europäischen Urwert, nämlich die Aufklärung. Zu dieser gehört, so der große Philosoph Kant, „der Mut, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen“. Wenn andere Juden das Flugblatt als antisemitisch empfinden, kann ich das ebenfalls nachvollziehen. Wir bewegen uns hier auf der Ebene der Gefühle. Gefühle sind aber keine Fakten. 

    Sie beklagen, dass Konservative unzulässiger Weise mit Nazis in einen Topf geworfen werden. Ist es aber nicht legitim, Aiwanger nach seiner Rede in Erding zumindest einen Rechtspopulisten zu nennen, der auf der Klaviatur der AfD spielt?

    Wolffsohn: Aiwangers Freie Wähler sind Konkurrenten der AfD. Ich wähle beide nicht. Mir ist aber lieber, dass die Freien Wähler und nicht die AfD Stimmen bekommen. Bei jenen war bislang Antisemitismus nicht erkennbar. Das von den Freien Wählern geführte Schulministerium zum Beispiel konzipiert und organisiert bemerkenswerte Programme gegen Antisemitismus. Das alles soll nicht mehr zählen? 

    Viele zeigen beim Thema Rechtspopulismus gerne mit dem Finger auf den Osten. Machen wir uns da etwas vor hier im Westen, weil wir eigentlich auch nicht „besser“ sind?

    Wolffsohn: Wir? Sind Sie Rechtspopulist, bin ich es? Bloß weil es leider auch unter Westdeutschen solche gibt? Der Rechtspopulismus im Osten ist auch eine späte Trotz-Reaktion auf die DDR-Heuchelei des Antifaschismus. Ähnlich wie Bruder Aiwanger oder der Aiwanger. Stichwort maximale Provokation. Die klassische Reaktion dummer Jungs und Mädchen. 

    Mal abgesehen von der Causa Aiwanger. Für wie gefährlich halten Sie den Antisemitismus in Deutschland?

    Wolffsohn: Es gibt heute drei höchst gefährliche Antisemitismus-Quellen: den altneuen rechtsextremistischen, den altneuen linksextremistischen und den islamischen Extremismus. Daher ist der Antisemitismus heute so gefährlich wie nie seit 1949. Der Nadelstreifen-Antisemitismus der Mitte ist unangenehm, aber ungefährlich.

    Zur Person: Professor Michael Wolffsohn, 76, ist ein jüdischer Historiker, der viele Jahre an der Universität der Bundeswehr in München gelehrt hat. Kürzlich erschienen ist eine komplett überarbeitete Neuauflage seines Werkes "Ewige Schuld" von 1988 mit hinzugefügten Ergänzungen im Verlag Langen Müller, 365 Seiten, 24 Euro.

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