Wie ein „Fürst der Finsternis“ sieht Klaus Welle beim besten Willen nicht aus. Mit seinem akkurat gestutzten Schnurrbart und der höflichen Art wirkt er eher wie der Prototyp des Brüsseler Eurokraten. Dass die Financial Times dem Deutschen vor zehn Jahren trotzdem diesen Spitznamen verpasste, lag vornehmlich an einer Erfindung: Welle gilt als der Vater des Spitzenkandidatenprinzips. 13 Jahre lang stand der heute 59-Jährige als Generalsekretär des Europäischen Parlaments rund 5500 Mitarbeitern vor – ein sehr einflussreiches Amt vor und hinter den Kulissen. Sein erklärtes Ziel in all den Jahren war es, die Autorität des Parlaments im Dauermachtkampf zwischen den politischen EU-Institutionen zu erweitern. Mit Erfolg. Die Befugnisse sind heute größer denn je, die 705 Abgeordneten aus 27 Mitgliedstaaten haben mehr finanzielle Mittel denn je und das Parlament tritt selbstbewusster denn je gegenüber der EU-Kommission auf. Aber reicht das?
Obwohl es das einzige Organ der Gemeinschaft darstellt, das direkt vom Volk legitimiert ist, spotten in Brüssel bis heute Beobachter über die „Plauderstunden“ im Hohen Haus Europas. Das EU-Parlament lediglich ein Abnickverein, der kaum etwas zu sagen hat? „Es ist viel selbstständiger als nationale Parlamente, weil es frei entscheidet, ob es zustimmt, ablehnt oder abändert“, sagt Welle. Auch der einzelne Abgeordnete habe mehr Möglichkeiten, auf Gesetzgebung Einfluss auszuüben. „Sie sind mächtiger als die Abgeordneten im Deutschen Bundestag.“
Das letzte Wort sprechen meist die Spitzen der EU-Länder
Dennoch sprechen die EU-Länder in der Realität das letzte Wort, was sie erst kürzlich wieder demonstrierten. Während der finalen Verhandlungen über die Reform des Asylpakts konnten sich die Abgeordneten mit keinem ihrer zentralen Wünsche durchsetzen. Das Thema Migration, es war Chefsache. Anders sah es aus beim jahrelangen Streit um die Rechtsstaatssünder im Kreis der Gemeinschaft. Da verlangten die EU-Parlamentarier einen härteren Kurs – und setzten sich durch. Erst auf massiven Druck des Parlaments ergriff die Kommission Maßnahmen gegen Ungarn und fror Gelder ein.
Vielleicht lässt es sich so zusammenfassen: Das Parlament kann an entscheidenden Stellschrauben drehen und Änderungen durchsetzen, die große Auswirkungen auf den Alltag der Europäer haben können. Außerdem müssen die Abgeordneten stets am Ende über alle Gesetze abstimmen. Ohne sie geht also nichts. Aber reichlich Luft nach oben gibt es dennoch, sind sich die Volksvertreter einig. So kritisieren sie etwa, dass sie kein Initiativrecht besitzen, sie können also keine Gesetze auf den Weg bringen. Das bleibt die Aufgabe der Kommission als Exekutive der Union. Dabei wird die Spitze der Behörde gemäß dem Vertrag von Lissabon vom Parlament gewählt, aber von den 27 Staatenlenkern nominiert. „Die Regierungschefs geben dieses Privileg, das sie meinen zu haben, nicht so leicht aus der Hand“, sagt Welle. Siehe Spitzenkandidatenprinzip. Siehe 2019.
Das Spitzenkandidatenprinzip steht auf wackeligen Beinen
Das erst vor zehn Jahren eingeführte Verfahren sollte dafür sorgen, dass sich die Kandidaten mit ihren Plänen schon im Wahlkampf bei den Bürgern vorstellen. Durch die Personalisierung erhoffte sich die EU mehr Interesse und größere Aufmerksamkeit. Schlussendlich wollte man den Wählern die Möglichkeit geben, auch über die Führung der Brüsseler Behörde mitzubestimmen. Das Spitzenkandidatenprinzip trägt bis heute in Brüssel die deutsche Bezeichnung, weshalb sich Franzosen, Portugiesen oder Polen regelmäßig fast die Zunge verschlucken. Gleichwohl bleibt der Versuch der Demokratisierung umstritten. Denn nur einmal hat es funktioniert, einmal ist es krachend gescheitert.
Nachdem 2014 Jean-Claude Juncker als erfolgreicher Spitzenkandidat der christdemokratischen EVP-Fraktion im Anschluss an die Europawahl von den Staats- und Regierungschefs zum Kommissionspräsidenten berufen wurde, lief 2019 alles anders. Die CDU-Politikerin Ursula von der Leyen wurde von den Staatenlenkern aus dem Hut gezaubert, weil vorneweg der französische Präsident Emmanuel Macron den Europawahlsieger Manfred Weber (CSU), der als Spitzenkandidat für die EVP angetreten war, im Top-Amt der Brüsseler Behörde verhindern wollte. Die Ambitionen des Niederbayern wurden durch eine schwammige Formulierung in den EU-Verträgen zerschlagen. Für das EU-Parlament war es eine schmerzliche Niederlage.
Hat das umstrittene Verfahren überhaupt noch eine Zukunft? „Der Europäische Rat hat das letzte Mal alles getan, um es kaputtzumachen“, sagt Klaus Welle. Er denkt trotzdem nicht, dass deshalb das Prinzip wieder verschwinden wird. Er hofft auf Standhaftigkeit. „Wenn ein Parlament sich so schnell entmutigen lässt, dann kommt es in der Regel nicht weit.“