Im Brüsseler EU-Parlament hielten sich manche EU-Vertreter erschrocken die Hand vor den Mund, als die ersten Prognosen aus Deutschland gemeldet wurden: Mehr als 16 Prozent für die AfD? Im größten und wichtigsten Mitgliedstaat der Gemeinschaft sind die Rechtspopulisten nach dieser Europawahl die zweitstärkste Kraft und würden damit für die nächsten fünf Jahre mit 16 EU-Abgeordneten im Parlament vertreten sein. AfD-Parteichef Tino Chrupalla sprach von einem „Super-Ergebnis“, auch wenn die Umfragen zeitweise ein noch besseres Ergebnis vorhergesagt hatten. Doch die Skandale, der Spionageverdacht, die Bestechungsvorwürfe, verbale Entgleisungen und Gerichtsprozesse hinterließen doch Eindruck bei manchen Wählern.
Im Nachbarland Frankreich zieht das sich abzeichnende desaströse Wahlergebnis des Mitte-Lagers noch am Abend spektakuläre Konsequenzen nach sich: Präsident Emmanuel Macron hat nach der Niederlage seiner Allianz angekündigt, die Nationalversammlung aufzulösen und bereits am 30. Juni ein neues Parlament wählen zu lassen. „Ich kann am Ende dieses Tages nicht so tun, als ob nichts geschehen wäre“, sagte Macron. Der rechtsextreme Rassemblement National mit dem Spitzenkandidaten Jordan Bardella erzielte laut Hochrechnungen etwa 32 Prozent der Stimmen. Damit geht die Partei von Marine Le Pen mehr als doppel so stak aus den Europawahlen hervor wie die Liste Renaissance des Regierungslagers, die auf etwa 15 Prozent kommt. Macrons eigenes Amt als Staatschef steht durch die Neuwahl der Nationalversammlung nicht auf zur Disposition, da der französische Präsident direkt gewählt wird.
In fast jedem Mitgliedsland zeigte der Trend nach Rechtsaußen
Ob Deutschland, Frankreich, Italien oder Belgien, Österreich und die Niederlande – tatsächlich gab es kaum ein Land, in dem der Trend nicht nach Rechtsaußen zeigte. Die Erkenntnis schon am frühen Abend lautete: Europa rückt deutlich nach rechts. Laut vorläufigen Schätzungen legte die österreichische FPÖ auf 27 Prozent zu. Mit dem Vlaams Belang könnten die Rechtspopulisten auch in Belgien stärkste Kraft werden. Selbst in Staaten wie Spanien, wo Sozialisten und Konservative um Platz eins rangen, wurden für die Rechten erwartet. Nachdem in den Niederlanden die rechtsextreme Partei PVV von Geert Wilders 2019 noch den Einzug ins EU-Parlament verpasst hatte, könnte sie nun Wahltagsbefragungen zufolge sieben der 31 Sitze erringen.
Was bedeutet das für die EU? Wackelt mit den Erfolgen der Rechtsextremen das Projekt oder ist gar die Demokratie in Gefahr? Experten gaben am Sonntag zumindest vorerst Entwarnung. Denn trotz der massiven Zugewinne sah es bis zum frühen Abend nicht danach aus, als ob die Parteien des Rechtsaußen-Lagers insgesamt auf mehr als 200 der insgesamt 720 Sitze kommen werden. Das heißt, dass Europas christlich-konservative Parteienfamilie EVP, zu der die CDU und CSU gehören, als stärkste Kraft gemeinsam mit den Sozialdemokraten und den Liberalen weiterhin eine Mehrheit bilden können, auch wenn sie unter Umständen dünn ist.
Es dürfte in Zukunft schwerer werden, im Parlament Mehrheiten zu finden
Da es deshalb in Zukunft schwieriger wird, im Hohen Haus Mehrheiten zu finden und Entscheidungen durchzubringen, dürfte die EVP eine breitere Basis aufbauen wollen. Doch noch ist offen, ob sie bei der Suche nach Verbündeten auf die Grünen zugeht oder nach Italien schaut. Von der Leyen hatte für Aufsehen gesorgt, weil sie für eine mögliche zweite Amtszeit eine lose Zusammenarbeit mit Mitgliedern der rechtskonservativen Fraktion der Europäischen Konservativen und Reformer (EKR) nicht ausgeschlossen hatte, solange sie pro Rechtstaat, pro Ukraine und pro Europa sind. Melonis Partei würde das einschließen. Sie gehört der EKR im EU-Parlament an, zu der auch die polnischen Nationalkonservativen der PiS zählen. Die sozialdemokratischen EU-Abgeordneten warnten jedoch, dass sie dann von der Leyen ablehnen würden. Könnte sich die Deutsche deshalb doch eher an die Grünen wenden und so die Sozialdemokraten halten?
Die FPÖ, die italienische Lega und der RN bilden in Brüssel derweil ein Bündnis der noch weiter rechts stehenden Fraktion Identität und Demokratie (ID). Nachdem alle AfD-Europaparlamentarier wegen der umstrittenen Äußerungen zur Waffen-SS des Spitzenkandidaten Maximilian Krah aus der ID ausgeschlossen wurden, stehen die deutschen Rechtspopulisten isoliert auf EU-Ebene da. Die geschasste AfD sucht bereits nach neuen Partnern, unter anderem in Ungarn. Allerdings müssen mindestens 23 Abgeordnete aus mindestens sieben Staaten zusammenkommen, um ein solches Bündnis zu formen.