Es deutete sich bereits bei der Ankunft der 27 Staats- und Regierungschefs im Brüsseler Europa-Gebäude an, dass dieser Donnerstag ein langer Tag werden würde, gefolgt von einer kurzen Nacht. Denn die Liste der Probleme für den EU-Gipfel gestaltete sich so unübersichtlich, dass weder die Politiker noch die am roten Teppich wartenden Journalisten wussten, welches Thema sie als erstes ansprechen sollten.
„Doorstep“ nennt sich das Ritual: Die Staatenlenker verkünden auf dem Weg von der Limousine zur Sitzung vor Reportern, Mikrofonen und Kameras kurz ihre Prioritäten, senden Botschaften an ihre Wähler in der Heimat aus oder äußern ihre Wünsche wie als Einstimmung auf die Tagung. Gestern klangen die Statements vor allem nach Spannungen und dieses Mal konnten sie die Differenzen nicht wie so oft auf den Dauer-Störenfried aus Ungarn, Ministerpräsident Viktor Orban, schieben.
27 Staats- und Regierungschefs fanden keinen Kompromiss beim Gaspreisdeckel
Denn die Widerständler kamen – je nach Streitpunkt – aus unterschiedlichen Richtungen. In weiser Voraussicht schickte EU-Ratspräsident Charles Michel deshalb vorab eine Bitte an die Vertreter der Mitgliedstaaten. „Wir müssen es schaffen zu zeigen, dass wir geeint sind.“ Das waren sie immerhin bei der Entscheidung, Bosnien-Herzegowina offiziell in den Kreis der Beitrittskandidaten aufzunehmen. So will die Gemeinschaft unter anderem vermeiden, dass das Balkanland sich verstärkt in Richtung Russland oder China orientieren könnte.
Dagegen fanden die 27 Staats- und Regierungschefs keinen Kompromiss beim Dauerthema Gaspreisdeckel, um das seit Monaten gerungen wird. Mehr als 15 Länder, darunter Italien und Belgien, pochen auf eine Obergrenze, andere Staaten lehnen eine solche strikt ab. Die EU-Kommission hatte zwar ein Modell vorgeschlagen, das sie Marktkorrektur-Mechanismus taufte und das die beiden unversöhnlichen Seiten zusammenführen sollte. Doch auch nach unzähligen Energieministertreffen gibt es bislang keine Einigung.
Deutschland und Niederlande führen Blockade gegen Gaspreisdeckel an
Die Blockade gegen den europäischen Gaspreisdeckel wird von Deutschland und den Niederlanden angeführt. Sie befürchten, dass Lieferanten ihre Tanker in andere Teile der Welt umleiten, wo es mehr zu verdienen gibt und Europa dann leer ausgeht. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) zeigte sich zunächst optimistisch. Er sei sicher, „dass es zu einer einvernehmlichen und gemeinsamen Lösung kommen wird“ – um dann aber doch noch ein einschränkendes „im Laufe der Zeit“ nachzuschieben. Schlussendlich gab es zwar eine grundsätzliche Entscheidung zugunsten eines Gaspreisdeckels, aber weil noch viel Klärungsbedarf herrschte, übergaben die Staats- und Regierungschefs die Aufgabe an ihre Energieminister. Die sollen am kommenden Montag eine Lösung finden – und eine endgültige Entscheidung treffen. Das Problem: Wegen der Auseinandersetzung liegen auch die Pläne für einen gemeinsamen Gaseinkauf und schnellere Genehmigungen bei erneuerbaren Energien auf Eis. Einige Regierungen, etwa aus Spanien oder Italien, wollen anderen Maßnahmen erst zustimmen, wenn auch der Gaspreisdeckel steht.
Ebenfalls zur Diskussion stand das Problem der Erweiterung des Schengen-Raums, das aus Sicht von fünfundzwanzigeinhalb Mitgliedstaaten eigentlich kein Problem darstellen sollte. Doch die Aufnahme von Rumänien und Bulgarien war gerade an der Blockade aus Österreich gescheitert. Die Niederlande hatten sich ebenfalls gesträubt, aber lediglich gegen die Vollmitgliedschaft von Bulgarien. Wien befürchtet nach eigenen Angaben, dass mehr Asylsuchende einreisen könnten, EU-Diplomaten erkennen dagegen innenpolitische Erwägungen als Hauptgrund für die Blockade. Die EU-Kommission hatte den Ländern bescheinigt, die Voraussetzungen längst zu erfüllen und deshalb die Partner aufgefordert, nicht nur Kroatien, sondern auch die beiden anderen Kandidaten aufzunehmen. Nun hoffen die Staats- und Regierungschefs, den österreichischen Kanzler im persönlichen Gespräch umstimmen zu können.
Europäer sehen US-Subventionsprogramm von Biden als diskriminierend
Immerhin einig waren sich die Länderspitzen in ihrer Sorge vor einem Handelskrieg mit den USA. Wie soll die EU auf die protektionistische Klimapolitik von Präsident Joe Biden reagieren? Das transatlantische Verhältnis ist aufgrund des 370 Milliarden Dollar schweren US-Subventionsprogramms belastet, weil die Europäer die Förderregeln als diskriminierend und wettbewerbsverzerrend bewerten. Die von Washington angekündigten Subventionen und Steuergutschriften sind daran geknüpft, dass Unternehmen US-Produkte verwenden oder selbst in den Vereinigten Staaten produzieren. EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen schlug als mögliche europäische Antwort vor, einen gemeinschaftlich finanzierten EU-Souveränitätsfonds aufzulegen, aus dem dann Investitionen in grüne Technologien subventioniert werden könnten. Ein großes Projekt, das die Mitgliedstaaten auf die Agenda für Januar verschoben haben.
Nun könnte man meinen, dass sich die Staats- und Regierungschefs zumindest bei den milliardenschweren EU-Hilfen für die Ukraine einig sein würden, nachdem der Ungar Orban sein Veto zurückgezogen hatte. Das waren die Staatenlenker theoretisch auch, doch praktisch durchkreuzte plötzlich Polens Premier Mateusz Morawiecki die Pläne. Er nannte es „Erpressung“, dass einige Länder Themen miteinander verknüpfen wollten, „die so viel miteinander zu tun zu haben wie Äpfel mit Bananen“. Morawiecki scheint von Orban gelernt zu haben. Diplomaten bezeichneten den Schritt nämlich als „weitere Geiselnahme", um die EU dazu zu bringen, den wegen Rechtsstaatsbedenken eingefrorenen polnischen Anteil aus dem Corona-Wiederaufbaufonds herauszugeben.