Die Einladung in die Arktis versahen die Schweden mit der Empfehlung, geeignete Schuhe und warme Kleidung mitzubringen. Denn es geht für die Spitzen der EU-Kommission am Donnerstag in den hohen Norden nach Kiruna. Hier, nördlich des Polarkreises, wird zwar derzeit die für Januar geltende Durchschnittstemperatur von normalerweise minus 20 Grad Celsius nicht erreicht. Aber es ist dennoch bitterkalt, wenn sich EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen und Schwedens Ministerpräsident Ulf Kristersson hier mit ihren Teams zum offiziellen Auftakt der sechsmonatigen EU-Ratspräsidentschaft treffen.
Die Besucher würden zum einen eine „herrliche Naturlandschaft“ erleben, hieß es als Begründung für die Wahl des Ortes. Zum anderen handele es sich um „eine einzigartige Region in der EU, in der derzeit ein grüner industrieller Wandel von historischem Ausmaß stattfindet“, so Kristersson. Die Stadt bildet den Rahmen für das Motto, das das bevölkerungsreichste Land Skandinaviens für den EU-Ratsvorsitz ausgerufen hat: „Sicherer, grüner, freier.“
Schweden übernimmt EU-Ratspräsidentschaft: Die Liste der Krisen ist lang
Tatsächlich wird es in den kommenden Monaten vor allem um den Umgang mit verschiedenen Krisen gehen, wie der schwedische EU-Botschafter Lars Danielsson am gestrigen Montag in Brüssel sagte. Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine und seine Konsequenzen, Energie- und Klimakrise, Rechtsstaatlichkeitsdefizite, Migration – die Liste ist lang. „Wir machen uns keine Illusionen darüber, dass wir Europa in sechs Monaten verändern können, aber wir werden versuchen, einen kleinen Fußabdruck zu hinterlassen“, so der Diplomat.
Vier Prioritäten hat sich Stockholm gesetzt: Sicherheit und Einheit; Resilienz und Wettbewerbsfähigkeit; ökologischer Wandel und Energiewende sowie demokratische Werte und Rechtsstaatlichkeit. Bei den Schwerpunkten gibt es kaum Uneinigkeit und trotzdem herrscht in Brüssel eine Mischung aus Skepsis und Sorge. Der Grund: Seit Herbst vergangenen Jahres regiert in Schweden eine konservative Drei-Parteien-Koalition, die auf die Unterstützung der rechtspopulistischen Schwedendemokraten angewiesen ist. Zwar nicht an der Macht, dulden die EU-Hasser das Bündnis aus Mitte-Rechts-Moderaten, Christdemokraten und Liberalen – und haben deshalb auch Einfluss auf europäische Angelegenheiten.
Wie wird sich das auf eines der wichtigsten Themen der nächsten Monate auswirken? Die Reform des Asylrechts steht an, doch die Situation ist verzwickt. Man wolle auf die „externe Dimension“ blicken, kündigte Danielsson an, also auf die Zusammenarbeit mit Herkunftsstaaten von Migranten sowie auf jene mit Transitländern setzen. Seit Jahren streiten die 27 Partner über eine gemeinsame Asylpolitik. Die Gespräche verlaufen zäh, die Fortschritte sind klein. Eine Debatte über die freiwillige Verteilung von Flüchtlingen will man deshalb nicht aufnehmen, hieß es am Montag. Vielmehr ist das Ziel, weiter an dem 2020 von der EU-Kommission präsentierten Vorschlag für eine EU-weite Regelung, dem Migrationspakt, zu arbeiten. „Es liegen alle Instrumente auf dem Tisch“, sagte Danielsson. Nur nutze man sie nicht oder nicht auf effektive Weise. Der Diplomat zeigte sich „relativ optimistisch“, dass man die Grundlagen schaffen könne, um den Weg zu einem Kompromiss bis Anfang 2024 zu ebnen. „Die allgemeine Bereitschaft, eine Einigung zu erzielen, ist größer als je zuvor“, sagte er, ohne konkret zu werden.
Wie geht die EU mit dem US-Subventionsprogramm um?
Neben der weiteren Unterstützung für die Ukraine, der Abfederung der Kriegsfolgen sowie einem Fokus auf Klimagesetze hob Danielsson die Bedeutung einer Antwort auf das milliardenschwere Investitions- und Subventionsprogramm der USA, den sogenannten Inflation Reduction Act, hervor, den die Europäer als diskriminierend empfinden. Konfliktpotenzial bietet auch die Diskussion um die Rechtsstaatlichkeit. Einst galten die Schweden als deren Chef-Verfechter, nun befürchten Beobachter, dass sich die Schwedendemokraten einmischen könnten. Sie stehen inhaltlich jenen Regierungen nah, gegen die Strafmaßnahmen verhängt wurden, vorneweg Ungarn. Doch die schwedische Regierung versuchte zuletzt, Zweifler zu beruhigen. So versprach Premier Kristersson, dass Stockholm weiter die Rechtsstaatlichkeit in allen Mitgliedstaaten wahren wolle. Und auch Botschafter Danielsson wies gestern die „Gerüchte“ zurück, Schweden könnte das Thema nicht ernst genug nehmen. Man werde die Sache „objektiv behandeln“ – ganz so, wie es das formelle Verfahren der Union vorsieht.