Ursula von der Leyen wird gerne für ihre Disziplin und Selbstkontrolle gerühmt. Dementsprechend dürfte sie ein Satz ärgern, der ihr an diesem Montagabend bei der ersten Debatte der Spitzenkandidaten für die Europawahl im Juni herausgerutscht war. Die Kommissionspräsidentin wurde mehrfach gefragt, ob ihre Europäische Volkspartei (EVP) – zu der CDU und CSU zählen – offen für eine Zusammenarbeit mit Parteien rechts davon wäre. Die Deutsche wand sich zunächst, wich der Frage aus, um schließlich doch einzuräumen: „Es hängt sehr stark davon ab, wie sich das Parlament zusammensetzt und wer in welcher Fraktion sitzt.“ Ein Nein klingt anders.
Der ebenfalls auf der Bühne stehende Grünen-Kandidat Bas Eickhout schien ehrlich erstaunt über ihre Antwort: „Was?“, rief der Niederländer fast ungläubig. Zwar schloss von der Leyen jegliche Kooperation mit der Parlamentsfraktion Identität und Demokratie (ID), zu der die AfD und der französische Rassemblement National von Marine Le Pen zählen, aus. Im Umkehrschluss aber zeigte sie sich bereit für eine Zusammenarbeit mit den „Europäischen Konservativen und Reformern“, abgekürzt EKR. Unter diesem Dach versammeln sich zum Beispiel die postfaschistischen Fratelli d’Italia von Regierungschefin Giorgia Meloni, die polnischen PiS, die rechtsnationalen Schwedendemokraten oder die ultrarechte spanische Partei Vox.
Daniel Freund, Grüne: Ursula von der Leyen macht Tür nach rechts auf
„Ich fand es überraschend, dass Ursula von der Leyen diese Tür vor der Wahl so aufmacht“, sagte der Grünen-Europaabgeordnete Daniel Freund. Zwar bereite der EVP-Fraktions- und Parteivorsitzende Manfred Weber (CSU) diesen Schritt seit Jahren vor, aber „dass von der Leyen das so eingesteht, ist schon krass“. Seiner Ansicht nach sei es völlig falsch, die Situation so darzustellen, als ob die ID „die Schlimmen sind und die EKR schon irgendwie geht“. Es gebe Leute in der EKR, die seien noch viel extremer als manche in der ID, so Freund. Tatsächlich unterscheiden sich die beiden insbesondere in der Außenpolitik. Während die Vertreter der ID einen eher russlandfreundlichen Kurs fahren, steht die EKR mehrheitlich auf der Seite der Ukraine.
Kritik kam auch von den Liberalen: Eine Zusammenarbeit mit der EKR bedeute eine „Kooperation mit Abgeordneten, von denen manche das Recht auf Abtreibung ablehnen, andere im EP mal den Hitlergruß zeigen, und wiederum andere Schwulen und Lesben freie Zonen in Europa etablieren wollen und meinen, dass Putin die Ukraine angreifen musste“, sagte der FDP-Europaparlamentarier Moritz Körner.
Ministerpräsident Söder besucht Meloni
Bei Meloni scheiden sich jedoch die Geister. CSU-Mann Manfred Weber etwa gastiert auf der Suche nach neuen Verbündeten auch immer wieder in Rom. Gleichwohl verweist er stets auf die Bedingungen der EVP, die für den Austausch mit allen Gesprächspartnern erfüllt sein müssten: „Pro Europa, pro Ukraine, pro Rechtsstaat.“ Das schließt für ihn ein Bündnis mit der PiS in Polen zwar aus. Aber Meloni? Sie trifft theoretisch die Kriterien. Bayerns Ministerpräsident Markus Söder reist Ende kommender Woche nach Rom. Dabei will er nicht nur Papst Franziskus treffen, sondern am Freitag auch Meloni. Er will sich einen persönlichen Eindruck von ihr verschaffen.
Zuletzt reisten von der Leyen und Meloni Schulter an Schulter als „Team Europa“ nach Tunesien und Ägypten, um Deals auszuhandeln, in deren Folge die nordafrikanischen Länder Flüchtlinge und Migranten davon abhalten sollen, nach Europa zu gelangen. Während die Italienerin im Wahlkampf 2022 in Italien noch lautstark gegen Europa polterte, agiert sie seit ihrer Amtsübernahme auf EU-Ebene pragmatisch und wird von Diplomaten sowie Staats- und Regierungschefs als „konstruktive Partnerin“ gelobt.
Braucht von der Leyen Unterstützung für eine Wiederwahl?
Grünen-Politiker Freund schüttelt den Kopf über solche Aussagen und verweist auf die Angriffe der Regierung auf die Unabhängigkeit der Medien in Italien. Er habe den Eindruck, dass sich Meloni ein Beispiel an Ungarns Autokrat Viktor Orbán nimmt: „Man baut sehr konsequent den eigenen Machterhalt aus und übernimmt Institutionen, aber in einer Geschwindigkeit, die nie großen Widerstand auslöst und Millionen Leute auf die Straße treibt.“ Auf der internationalen Bühne gehe sie dagegen, anders als Orbán, nicht in die Konfrontation und sei dafür „viel machtvoller“. Meloni mache das „sehr geschickt“.
Und von der Leyen und die Italienerin scheinen sich zu mögen. Das ist das eine. Viel wichtiger ist wohl, dass sie einander brauchen. Als Meloni eine deutliche Verschärfung der Asylpolitik durchsetzen wollte, benötigte sie dafür die Hilfe der Brüsseler Behördenchefin. Und für die CDU-Politikerin ist die Spitzenkandidatur kein Garant für eine erneute Amtszeit. Laut Umfragen wird die EKR nach den Wahlen deutlich wachsen, was den heiklen Flirt erklärt: Ursula von der Leyen könnte am Ende auf die Stimmen von Meloni und Co. angewiesen sein.