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Europäische Union: Grundsatzrede von Olaf Scholz: Zeitenwende auf Europäisch

Europäische Union

Grundsatzrede von Olaf Scholz: Zeitenwende auf Europäisch

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    Hegt Zweifel am Einstimmigkeitsprinzip der Europäischen Union: Kanzler Olaf Scholz nach seiner Europa-Rede in der Karls-Universität zu Prag.
    Hegt Zweifel am Einstimmigkeitsprinzip der Europäischen Union: Kanzler Olaf Scholz nach seiner Europa-Rede in der Karls-Universität zu Prag. Foto: Kay Nietfeld, dpa

    Olaf Scholz wählte nicht zufällig die ehrwürdige Karls-Universität in Prag als Bühne für seinen Appell an Europa. Es ging um Symbole – und der Ort sollte seiner ersten europapolitischen Grundsatzrede zusätzliches Gewicht verleihen. Prag sei „Europa im Kleinen“, die 1348 gegründete Universität, eine der ältesten auf dem Kontinent, dementsprechend eine „Chronistin unserer an Licht und Schatten so reichen europäischen Geschichte“, sagte Scholz im Karolinum, dem historischen Hauptgebäude. Der Fingerzeig hätte deutlicher kaum sein können.

    Hier im Tempel des Wissens, der Ideen, der Reformbewegungen präsentierte der deutsche Regierungschef 60 Minuten lang seine Vision für ein modernes Europa. Dafür forderte der SPD-Politiker weitreichende Reformen, darunter die Lockerung des Einstimmigkeitsprinzips. In der Außenpolitik, aber auch in der Steuerpolitik wünscht er, „schrittweise zu Mehrheitsentscheidungen überzugehen“. Die Verträge seien „nicht in Stein gemeißelt“. Regelmäßig sorgt das Einstimmigkeitsprinzip für Ärger, weil es Regierungen die Möglichkeit bietet, Beschlüsse zu blockieren. Mit jedem weiteren Mitgliedstaat wachse auch das Risiko, „dass ein einzelnes Land mit seinem Veto alle anderen am Vorankommen hindert“, so Scholz.

    Ein Flüchtlingsboot auf dem Mittelmeer: Kanzler Olaf Scholz fordert Reformen in der europäischen Migrationspolitik und mehr Zusamnmenarbeit mit den Herkunftsländern.
    Ein Flüchtlingsboot auf dem Mittelmeer: Kanzler Olaf Scholz fordert Reformen in der europäischen Migrationspolitik und mehr Zusamnmenarbeit mit den Herkunftsländern. Foto: Jeremias Gonzalez/AP, dpa

    Die Rede während seines Besuchs in Tschechien, das derzeit die EU-Ratspräsidentschaft innehat, war in gewisser Weise eine Weiterführung von Scholz’ „Zeitenwende“-Ansprache Ende Februar. Als solche hatte er nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine die Neuausrichtung der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik bezeichnet. „In diesen Tagen stellt sich erneut die Frage, wo künftig die Trennlinie verläuft zwischen diesem freien Europa und einer neoimperialen Autokratie“, sagte er gestern. Wie also soll die Zeitenwende im europäischen Kontext aussehen?

    Olaf Scholz plädiert für mehr wirtschaftliche und technologische Unabhängigkeit

    Der Kanzler plädierte dafür, nicht nur wirtschaftlich und technologisch unabhängiger zu werden, sondern mit den europäischen Partnern ein neues Luftverteidigungssystem zu schaffen. Ein gemeinsam aufgebautes System wäre „nicht nur kostengünstiger und effizienter“ als nationale Lösungen. „Es wäre ein Sicherheitsgewinn für ganz Europa.“

    Gleichwohl gab Scholz auch eine Antwort auf Emmanuel Macrons Grundsatzrede, mit der dieser vor fünf Jahren an der Pariser Sorbonne die „Neugründung“ eines souveränen, demokratischen und vereinigten Europas gefordert hatte. Während der französische Staatspräsident damals voller Leidenschaft seine Initiative aufmalte, blieb sich Scholz treu und las nüchtern seine Notizen ab.

    Scholz verlangt auch Reformen in der Migrationspolitik

    Die anwesenden Studenten reagierten mit höflichem Applaus. Macron hatte zuletzt eine politische Gemeinschaft über die EU hinaus ins Spiel gebracht. Daran knüpfte Scholz inhaltlich an, zeigte sich aber zurückhaltend. Immerhin im Groben klang es so, als unterstütze er Macrons Idee, sprach aber lieber von einem Forum. Derzeit fehle ein solches, in dem die EU-Staats- und Regierungschefs mit Partnerstaaten ein- oder zweimal jährlich zentrale Themen besprechen, zum Beispiel, wenn es um Sicherheit, Energie oder Klimaschutz ginge. „Solch ein Zusammenschluss – das ist mir ganz wichtig – ist keine Alternative zur anstehenden EU-Erweiterung.“ Man stünde bei den Beitrittskandidaten im Wort, „bei den Ländern des westlichen Balkans sogar schon seit fast 20 Jahren“. Der Kanzler drängt schon lange auf rasche Fortschritte bei der Anbindung von Nordmazedonien, Albanien, Montenegro und Serbien. Dort herrscht zunehmend Frust angesichts der ungeklärten Perspektive.

    Ohne konkret zu werden, verlangte er auch Reformen in der Migrationspolitik, einem der größten Streitpunkte der Union. Europa brauche neben mehr Zusammenarbeit mit den Herkunftsländern und einem effektiveren Schutz der Außengrenzen „ein Asylsystem, das solidarisch und krisenfest ist“. Außerdem sollen Verstöße gegen Grundwerte der EU leichter zu einem Fall für den Europäischen Gerichtshof werden können, forderte Scholz und sandte damit eine Botschaft nach Budapest an Putin-Freund Viktor Orban. Es mache Sorgen, „wenn mitten in Europa von ‚illiberaler Demokratie’ geredet wird – so, als wäre das nicht ein Widerspruch in sich“.

    Der Kanzler will den Eindruck deutscher Besserwisserei vermeiden

    Dies alles seien Ideen, Angebote, Denkanstöße – „keine fertigen deutschen Lösungen“. Der Kanzler versuchte, den Eindruck zu vermeiden, dass Deutschland über die Köpfe der Nachbarn entscheidet, auch wenn in Brüssel zuletzt oft weniger eine Übermacht Berlins kritisiert wurde als eine fehlende Führung.

    Er schloss seine Rede mit einem Wink in die Historie. „Wann, wenn nicht jetzt, schaffen wir ein souveränes Europa, das sich behaupten kann in einer multipolaren Welt?“, lautete eine seiner Fragen in Anlehnung an die Studenten, die am Abend des 17. November 1989 die Samtene Revolution in Gang setzten. Auf dem Prager Campus erinnert eine bronzene Plakette an die Proteste, darauf geschrieben: „Wann, wenn nicht jetzt? Wer, wenn nicht wir?“ Scholz wolle diese Sätze allen Europäern zurufen. „Es geht um unsere Zukunft, die Europa heißt.“

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