Die Pandemie hatte die Vorbereitungen für die Konferenz zeitweise gestoppt – das ist die offizielle Darstellung. Tatsächlich begann das Vorhaben, das Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron in seiner viel gerühmten Rede über Europa an der Sorbonne 2017 angestoßen hatte, wohl auch deshalb so stockend, weil man sich hinter den Kulissen nicht einig wurde. Erst stritt man über den Auftrag der Konferenz, an der erstmals auch zufällig ausgewählte Bürger teilnehmen sollen. Dann gab es Rangeleien um die Form: Man einigte sich auf mehrere Gesprächsforen in mehreren Ländern. Und auch die Frage des Vorsitzes löste Zoff aus: Nun sind es die drei Spitzen von Parlament, Kommission und der halbjährlich wechselnden Ratspräsidentschaft, derzeit Portugal.
Was sich die Bürger für die Zukunft der EU wünschen
Was das Reformprojekt genau bringen soll, ist unklar. „Nur der Himmel setzt Grenzen“, sagte der liberale Parlamentarier Guy Verhofstadt im Vorfeld. Soll heißen: Was die Menschen wollen, muss machbar sein. Dahinter steckt ein zentraler Knackpunkt: Wird die EU auch Vorschläge der Bürger akzeptieren, die nur mit einer Änderung der europäischen Verträge zu realisieren sind? Die Position der Staats- und Regierungschefs lässt wenig Lust erkennen, diese Büchse der Pandora zu öffnen und Verhandlungen über einen neuen EU-Vertrag führen zu müssen. Aber: Das Tabu steht zur Disposition. Im Oktober 2020 hatte es eine erste Eurobarometer-Umfrage (27.000 Befragte aus allen 27 Mitgliedstaaten) gegeben: 91 Prozent drängten darauf, dass die EU mehr auf die Bürger hört
.
51 Prozent forderten, dass Bürger aus allen Schichten beteiligt werden. Die großen Wünsche: vergleichbare Lebensstandards, mehr Solidarität und eine gemeinsame Gesundheitspolitik. Bei den Hauptanliegen wurden Klimawandel, Terrorismus, Gesundheit und Migration genannt. Als die digitale Plattform für die Bürgerbeteiligung eröffnet wurde, lautete der erste Eintrag: „Bitte stoppen Sie die Einwanderung.“
Die Bereitschaft der EU-Regierungen, über ihren Schatten zu springen, scheint nicht allzu ausgeprägt. Denn dann müsste man den Zwang zur Einstimmigkeit aufgeben, um sich nicht ständig selbst zu blockieren. Das Miteinander der Institutionen müsste neu geordnet werden, wie der jüngste Vorfall beim Besuch von EU-Ratspräsident Charles Michel und Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in Ankara zeigte, als der ersten Frau Europas ein Platz in der ersten Reihe verwehrt wurde. Seither streitet man in Brüssel, wer von den beiden die Nummer 1 ist.
Doch solche Reformen würden an die Substanz gehen – und sie wurden schon bei früheren Konferenzen oder beim Konvent vor 18 Jahren über eine Verfassung für die Europäische Union vereinbart, dann aber doch gestoppt. Für Spannung ist allemal gesorgt, wenn das bunte Auftaktfest am Europa-Sonntag vorbei ist und es ans Eingemachte geht.
Lesen Sie dazu auch:
- EU erwägt Anti-Terror-Einsatz in Mosambik
- Merkel bei Klimadialog: Appell für mehr Solidarität
- EU-Kommission will bis Oktober neue Medikamente gegen Corona