Der Richter las das Urteil auf Polnisch vor, immerhin sollte es vor allem und zuerst die rechtskonservative Regierung in Warschau erreichen: Deren 2019 umgesetzte Justizreform verstößt gegen EU-Recht. Das verkündete der Europäische Gerichtshof (EuGH) am Montag in Luxemburg und gab damit einer Klage der EU-Kommission statt. Handelt es sich um die finale Niederlage für Polen in Sachen Unabhängigkeit und Privatleben von Richtern? Insbesondere die inzwischen abgeschaffte Disziplinarkammer, so etwas wie das Herzstück der von der PiS-Partei (Recht und Gerechtigkeit) initiierten Justizreformen, habe die richterliche Unabhängigkeit untergraben. Kritiker monieren allerdings, dass trotz der mittlerweile vorgenommenen Änderungen am Originalgesetz die Richter weiterhin nicht in der Lage sind, unabhängig zu agieren aus Angst vor Strafen oder Maßnahmen wie einer Zwangsversetzung oder einer Verabschiedung in den vorzeitigen Ruhestand. Die polnischen Regeln gewährleisteten keinen Zugang zu einem unabhängigen und unparteiischen Gericht.
Konkret ging es unter anderem darum, ob es gestattet ist, die Mitgliedschaft polnischer Richter in Vereinen, Stiftungen oder politischen Parteien im Internet offenzulegen. Der EuGH sagte Nein. Seiner Ansicht nach verletzt die Veröffentlichung solcher Details die Privatsphäre der Richter und könnte dazu verwendet werden, diese zu beeinflussen. Das Urteil "bekräftigt erneut, wie vielfältig und tiefgreifend die polnische Regierung den Rechtsstaat abgebaut hat“, kommentierte die Vizepräsidentin des EU-Parlaments, Katarina Barley (SPD), gegenüber unserer Redaktion.
Polen gehen gegen die PiS auf die Straße
Es ist noch nicht lange her, als der Streit zwischen dem osteuropäischen Mitgliedstaat und der EU beinahe monatlich neue Eskalationsstufen erreichte – ob Ministerpräsident Mateusz Morawiecki im Herbst 2021 in martialischer Sprache vor einem "Dritten Weltkrieg“ warnte oder die EU-Kommission als Hüterin der Verträge kaum noch damit hinterherkam, Klagen gegen Warschau einzureichen. Dann rückte Russlands Krieg gegen die Ukraine die internen Auseinandersetzungen für eine Weile in den Hintergrund. Doch nicht nur, dass am Sonntag hunderttausende Menschen in Polens Hauptstadt auf die Straße gingen, um gegen die PiS zu demonstrieren. Nun bricht der Konflikt zwischen Brüssel und Warschau mit einem Paukenschlag auch wieder auf offener Bühne aus. "Der Rechtsstaat in Polen ist immer noch defekt“, sagte der FDP-Europaabgeordnete Moritz Körner, und befand die bisherigen Schritte, um den europäischen rechtsstaatlichen Anforderungen gerechter zu werden, als nicht ausreichend. "Der EuGH stellt richtig klar: Rechtsbruch bleibt Rechtsbruch.“
Das Urteil ist von besonderer Brisanz – für beide Seiten. Es geht nämlich abgesehen vom Recht auch um viel Geld: Weil die PiS sich weigert, frühere EuGH-Urteile umzusetzen, muss das Land eine halbe Million Euro pro Tag an Strafe zahlen. Das dürfte sich so schnell nicht ändern.
EU will weiter die Hand am Geldhebel lassen
Ein kurzer Rückblick: Der EuGH hatte Polen im Oktober 2021 zu einem Zwangsgeld von einer Million Euro täglich verurteilt, solange das Land die Arbeit der Disziplinarkammer nicht aussetzt. Die Richter sahen sie nicht mit EU-Regeln zur Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Justiz vereinbar. Doch die polnische Regierung weigerte sich zu zahlen, weshalb die Kommission begann, die Buße mit Überweisungen zu verrechnen. Warschau knickte unter dem Druck der ausbleibenden Finanzen ein – zumindest ein bisschen. So schaffte die Regierung die Kammer, die für Disziplinarverfahren gegen Richter zuständig war, zwar ab, ersetzte sie aber durch eine neue "Kammer für berufliche Verantwortung". Die Brüsseler Behörde zeigte sich skeptisch – und hob die Geldstrafe nicht auf. Der EuGH aber würdigte die Änderung an dem Justizgesetz und halbierte im April dieses Jahres die Summe auf 500.000 Euro pro Tag.
Polen und Ungarn gehören in der Staatengemeinschaft nicht nur zu den größten Profiteuren von EU-Fördergeldern, sie gelten auch als die lautstärksten Störenfriede beim Thema Rechtsstaatlichkeit. Als Konsequenz hält Brüssel bis heute die Auszahlung von Milliardensummen zurück, die Warschau aus dem Corona-Wiederaufbaufonds eigentlich zustehen. "Solange die Richter in Polen nicht unabhängig agieren können, kann das Land nicht als vollwertiger demokratischer Partner behandelt werden“, so FDP-Mann Körner. "Da die polnische Regierung bisher keine Anstalten gemacht hat, von ihrem Kurs abzuweichen“, sagte Daniel Freund, der Grünen-Europaabgeordneter, müsse die EU-Kommission Finanzstrafen beantragen, bis die Urteile des EuGH in Polen umgesetzt seien.