Das Hohe Haus Europas brüstet sich gerne für seine Unaufgeregtheit. Was Kritiker als langweilig abtun, nennen EU-Anhänger bemüht um Einigkeit. Doch was sich bei der finalen Abstimmung im Umweltausschuss des EU-Parlaments abspielte, kann mit dem Titel "Drama" überschrieben werden. Am Dienstagmittag endete sie so, wie sie vor zwei Wochen begonnen hatte: 44 zu 44. Patt. Selten zeigt sich die tiefe Spaltung im Kreis der EU-Abgeordneten so offensichtlich. Am Ende klatschten nur die Christdemokraten, ein paar Liberale und die Rechten. Von wegen Kompromissmaschine, im Juni 2024 finden die Wahlen statt.
Während die Europäische Volkspartei (EVP) vor zwei Wochen noch mit ihrem Vorhaben, eines der zentralen Umwelt- und Klimagesetze der laufenden Legislaturperiode zu versenken, gescheitert war, lag bei der finalen Abstimmung im Gleichstand ihr Sieg. Das Gesetz zur Wiederherstellung der Natur wurde durch das Remis abgelehnt. Voraussichtlich im Juli wird nun das Plenum über die Verordnung abstimmen. Sie soll die EU-Mitgliedstaaten verpflichten, 20 Prozent der Ökosysteme, auf dem Land wie im Wasser, bis 2030 in einen möglichst natürlichen Zustand wiederherzustellen. Trockengelegte Moore würden unter anderem wieder vernässt, Wälder aufgeforstet und mehr Grün in Städte gebracht.
EU: Gesetz zur Wiederherstellung der Natur wurde abgelehnt
Der Vorschlag sei "nicht praktikabel, rückwärtsgewandt und ideologisch programmiert", sagte die EU-Abgeordnete Christine Schneider (CDU), erleichtert über das Ergebnis. "Er wird zu einem Rückgang der land- und forstwirtschaftlichen Flächen führen und damit unsere Ernährungssicherheit gefährden." Konservative Parteikollegen warnten unlängst gar – wissenschaftlich unbelegt – vor der Gefahr einer "weltweiten Hungersnot".
Das Gegenteil sei der Fall, widersprach der Biologe Helge Bruelheide von der Uni Halle. Der Professor gehört zu jenen mehr als 3300 Wissenschaftlern, die sich in einem offenen Brief für das Gesetz stark machen. "Die größten Risiken für die Ernährungssicherheit gehen alle vom Klimawandel aus", sagte er und verwies auf die Unvorhersehbarkeit von extremen Wetterereignissen. "Ein sorgsamerer Umgang mit unseren Böden und die Erhaltung des Bodens durch Artenvielfalt sind entscheidend für die langfristige Sicherung unserer Ernährungsgrundlage." Auch Umweltverbände, Unternehmen und einige Bauernverbände sprachen sich für die Verordnung aus. Sie sei "gut für das Klima, gut für die Artenvielfalt, gut für die Bäuerinnen und Bauern und gut für die Wirtschaft", sagte die Grünen-Europaabgeordnete Jutta Paulus und appellierte an die EVP, "endlich ihre Blockade zu beenden, ihre Desinformationskampagne zu stoppen und zur Sachpolitik zurückzukehren".
EU strebt Klimaneutralität bis 2050 an
Nun kommt es äußerst selten vor, dass sich die Aufmerksamkeit der gesamten Brüsseler Blase auf eine Abstimmung im Umweltausschuss richtet. Doch hier stand nicht nur einer der wichtigsten Bausteine des Grünen Deals zur Disposition, durch den die Gemeinschaft bis 2050 Klimaneutralität anstrebt. Es ging um Politik und um Wahlkampf und irgendwie auch um die Frage, wo Europa im Klimaschutz Prioritäten setzen und wie viel man Bauern zumuten will. Aufgeschreckt von den Ergebnissen der Provinzwahlen in den Niederlanden, bei denen die rechtspopulistische Bauer-Bürger-Bewegung BBB von der Wut der Landwirte profitierte, und mit Blick auf anstehende Wahlen, verfolgen die Christdemokraten die Linie, das Naturschutzpaket der EU-Kommission zu bekämpfen. Die Landwirte bräuchten eine Regulierungspause, findet die EVP, angeführt vom CSU-Politiker Manfred Weber.
Der gehört dem Umweltausschuss zwar nicht an, aber sein Geist, wenn man so will, schwebte über diesem denkwürdigen Nachmittag. Das eigentliche Drama nämlich folgte nach dem Votum. Dass der Niederbayer die EVP-Ausschussmitglieder zur Geschlossenheit gedrängt hatte, verurteilte der Chef des Komitees, Pascal Canfin, als "eine ganz klare Manipulation durch Manfred Weber". Dieser habe ein Drittel der abstimmenden EVP-Mitglieder, die sich für das Renaturierungsgesetz aussprechen wollten, ausgetauscht, um das gewünschte Ergebnis zu erzielen. Ein Vorwurf, auf den der EU-Parlamentarier Peter Liese (EVP) wenige Minuten später "geschockt" reagierte. Und er schoss verbal zurück. Canfin sei "der schlechteste und parteiischste Ausschussvorsitzende", den Liese in seiner Zeit im Parlament seit 1994 erlebt habe.
Ursula von der Leyen schweigt bislang zu den Vorgängen
Dass die Konservativen jetzt ausgerechnet einen wichtigen Entwurf aus dem Naturschutzpaket der Kommission zerschießen, wird in Brüssel deshalb mit Erstaunen aufgenommen, weil Ursula von der Leyen (CDU) zur EVP gehört. Die Behördenchefin wird voraussichtlich 2024 als deren Spitzenkandidatin antreten. Von der Deutschen ist in der Auseinandersetzung bislang kein Wort zu vernehmen, obwohl zahlreiche Parlamentarier an sie appellierten, einzugreifen.