Ein Abendessen stand für Freitag nicht auf dem EU-Gipfel-Plan und vielleicht war es am Ende dem Hunger geschuldet, dass sich die 27 Staats- und Regierungschefs doch noch einigten. Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) und seine Amtskollegen rangen den ganzen Tag über die zentrale Frage, wie Europa auf die explodierenden Energiepreise reagieren soll. Laut Insidern verloren sie sich zeitweise in hitzigen Gefechten über Details. Am Ende war man sich immerhin einig darüber, dass die EU angesichts des Ukraine-Kriegs in Energiefragen unabhängiger von Russland werden müsse. Aber wie?
Insbesondere Länder wie Spanien und Portugal wollten das Dokument zunächst nicht verabschieden, ohne ihre gewünschten Maßnahmen berücksichtigt zu sehen. Madrid etwa verlangt, den Strompreis vom Gaspreis lösen, die beide in der EU durch einen Preismechanismus gekoppelt sind. Ebenfalls kontrovers diskutiert wurde die Möglichkeit, die Energiepreise europaweit zu deckeln. Während der Vorschlag von Ländern wie Spanien und Portugal befürwortet wird, lehnt unter anderem Deutschland einen solchen Eingriff in den Markt ab.
Von der Leyen verweist auf "enorme Kaufkraft" der EU
Die Gegner einer Deckelung argumentieren, dass ein solcher Schritt nicht nur hohe Kosten für die Staatskassen bedeuten, sondern auch die Märkte verzerren würde, sodass Lieferanten unter Umständen ihr Gas oder ihren Strom lieber anderswo verkaufen, wo die Preise für sie besser sind. „Es war wichtig, dass wir uns die Zeit genommen haben“, sagte Scholz bei der Pressekonferenz. „Weil die Probleme groß sind“, seien auch die Debatten umfassend. Nicht nur Regierungen in Süd-, Ost- oder Mitteleuropa fürchten Energiearmut, soziale Spannungen und Proteste, wie bereits in Spanien gesehen. Noch haben die Staatenlenker die Bilder aus Frankreich im Kopf, als vor gut zwei Jahren die Gelbwesten-Bewegung zu Demonstrationen im ganzen Land aufgerufen hatte.
Als eine Maßnahme legten die 27 Politiker in ihrer Abschlusserklärung fest, dass Mitgliedstaaten auf freiwilliger Basis gemeinsam Gas einkaufen können. „Anstatt uns gegenseitig zu überbieten und die Preise in die Höhe zu treiben, werden wir unsere Nachfrage bündeln“, sagte EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen und verwies auf die „enorme Kaufkraft“ des Blocks.
15 Milliarden Kubikmeter Frackinggas aus den USA
Immerhin mit der Aussicht auf das Wochenende endete ein zweitägiger Gipfel-Marathon, der mit dem Nato-Treffen am Donnerstag begonnen hatte. Am Freitagvormittag legte dann vorerst zum letzten Mal Joe Biden mit seiner Eskorte das Brüsseler Europaviertel lahm, belgische Medien wollten 50 schwarze Autos in der gewaltigen Kolonne des US-Präsidenten gezählt haben.
Bevor sich die in Richtung Flughafen aufmachte, traten Biden und von der Leyen noch vor die Presse und präsentierten „ein neues Kapitel in unserer Energiepartnerschaft“. 15 Milliarden Kubikmeter Flüssiggas (LNG) wollen die USA gemeinsam mit internationalen Partnern dieses Jahr zusätzlich nach Europa liefern, um russische Gasimporte zu ersetzen, gaben die beiden Politiker bekannt. Mit dem neuen Pakt will die EU ihre Abhängigkeit von Moskau reduzieren und ihre Bezugsquellen diversifizieren „hin zu Lieferanten, denen wir vertrauen", so von der Leyen. Die Behörde ist dafür auch in Gesprächen mit Ländern wie Katar, Aserbaidschan, Japan und Südkorea.
Experten bremsen die Euphorie
So schnell wie möglich, aber bis spätestens 2030 soll die von den USA gelieferte Menge auf bis 72 Milliarden Kubikmeter pro Jahr ansteigen. Washington will dafür die heimische Gasförderung mit der hoch umstrittenen Fracking-Technik weiter ausbauen. Konkret geht es bei dem Deal um langfristige Lieferzusagen der Amerikaner für tiefgekühltes, unter hohem Druck verflüssigtes Erdgas, das per Tankschiffen in europäische Häfen transportiert wird. „Dies ist nur der Anfang und keineswegs die Maximalgrenze“, hieß es von einem Beamten der Behörde und verwies auf den politischen Willen der beiden Seiten.
Doch Experten bremsten den Jubel über die Ausweitung der Energie-Partnerschaft aus. Es handele sich um „einen Tropfen auf den heißen Stein“. Tatsächlich dämpfen die Zahlen den Optimismus: 2020 brauchte die Staatengemeinschaft insgesamt rund 400 Milliarden Kubikmeter Gas. Im vergangenen Jahr kamen 150 Milliarden aus Russland, rund 112 aus Norwegen und nur 22 wurden aus Amerika bezogen. Wenn aufgrund des verkündeten Deals in diesem Jahr zu den bereits mit den USA vereinbarten 22 Milliarden nun 15 Milliarden Kubikmeter hinzukommen, dann ist das, wie ein Beobachter es nannte, im Kontext der Russland-Abhängigkeit so, „als ob einem der Porsche geklaut wird und man gerade so viel Geld erhält, dass man es noch mit einem Leihfahrrad nach Hause schafft“.
Hören Sie sich dazu auch unseren Podcast an. Die Augsburgerin Tanja Hoggan-Kloubert spricht über die Angst um ihre Eltern in der Ukraine – und die überwältigende Hilfsbereitschaft in der Bevölkerung.