Man sieht ihr nicht an, dass sie im Nachtzug kaum geschlafen hat. Dass die Reise nach Kiew fast 15 Stunden gedauert hat. Ursula von der Leyen strahlt, als Wolodymyr Selenskyj sie an diesem Morgen vor dem Präsidentenpalast in Kiew begrüßt. Hier „dear Ursula“, dort „dear Wolodymyr“. Die beiden schätzen sich, sprechen regelmäßig am Telefon miteinander. Seit Russlands Invasion ist es die vierte Visite der EU-Kommissionspräsidentin in der Ukraine.
Im Flur des prächtigen Gebäudes leuchtet nur ein Teil der Lampen, vor den Fenstern und Türen stapeln sich Sandsäcke. Die feinen Malereien an der Stuckdecke und die schweren Brokatvorhänge können nicht verdecken, dass dies ein Empfang im Ausnahmezustand bleibt. 32 Stunden ist von der Leyen in der Ukraine zu Besuch. 32 Stunden, in denen es vor allem um die Zukunft der Ukraine gehen soll, auch wenn oder gerade weil das Land weiterhin erbittert um eine Gegenwart kämpft.
In Kiew wehen EU-Fahnen neben ukrainischen Fahnen
Wie als Aufruf zum Durchhalten will die EU den Wiederaufbau organisieren, um den Menschen Hoffnung auf ein Leben ohne Bomben und Bedrohung zu geben. Dafür bringt von der Leyen für den ersten Gipfeltag 15 Kommissare mit, die sich nun mit den jeweiligen Fachministern der ukrainischen Regierung im Kongresszentrum „Ukraine-Haus“ treffen, das einst als Lenin-Museum das Herz der kommunistischen Ideologie bildete und heute als Symbol der EU gilt.
Große Gesten, damit kennen sie sich in Kiew wie in Brüssel aus. Draußen, am Europäischen Platz, wehen EU-Fahnen neben ukrainischen Fahnen. Drinnen, umgeben von Beton-Charme, diskutieren sich die Politiker durch makroökonomische Planungen und technokratische Details. EU bleibt eben EU, sogar im Kriegsgebiet. Einerseits. Andererseits erlebte die Gemeinschaft im Schatten der russischen Gewalt eine Zäsur. Mit dem Morgen des 24. Februar 2022 war die Welt auch in Brüssel eine andere.
So fiel ein Tabu nach dem anderen, und das so schnell, dass selbst Insider kaum noch Schritt halten konnten. Das Wörtchen „historisch“ mag als Modewort der Politik abgedroschen sein, doch in diesem Fall traf es immer wieder zu. Erstmals in ihrer Geschichte finanzierte die EU den Kauf und die Lieferung von Waffen. Erstmals in ihrer Geschichte verhängte die Gemeinschaft beispiellose Sanktionen gegen Kreml-nahe Oligarchen und Organisationen. Ob Kohle oder Kaviar, Eisen und Edelmetalle, Stahlerzeugnisse oder Silber, Make-up, Möbel oder Maschinen – die Strafmaßnahmen reichten vom Privatvermögen der Oligarchen über Luxusgüter bis zu Schlüsselbranchen. Noch am Tag, bevor Putins Armee in der Ukraine einmarschierte, beschlossen die 27 Mitgliedstaaten das erste Paket, innerhalb von fünf Tagen folgten zwei weitere.
Von der Leyen hat die Warnungen der Geheimdienste stets ernst genommen
Es war ein Durchgreifen, das kaum jemand für möglich gehalten hatte. Und das auch von der Leyen zu verdanken war. Die Deutsche, die ihren Job unter anderem mit dem Versprechen an die Osteuropäer angetreten hatte, dass sie ihren Kreml-kritischen Kurs beibehalten werde, war vorbereitet. Sie hatte die komplizierte Sanktionsarchitektur schon Wochen zuvor planen lassen, pflegte engen Kontakt zu US-Präsident Joe Biden und nahm seine Sorgen und die Warnungen der Geheimdienste ernst, während man in einigen europäischen Hauptstädten noch die „Panikmache“ aus Washington belächelte.
Auch wenn von der Leyen und der ehemalige britische Premierminister Boris Johnson, seines Zeichens Chef-Cheerleader der Brexiteers, unterschiedlicher kaum sein könnten, teilen sie eine Eigenschaft, die im damaligen Ausnahmezustand helfen sollte: Sie verfügen über einen guten Instinkt.
Beide Politiker haben früh verstanden, was Russlands brutales Vorgehen bedeutet, und ebenso früh entschieden, dies nicht hinnehmen zu können. Hier griff ein Autokrat die gesamte internationale Friedensordnung an – wie auch alles, wofür Europa steht.
In schwarzen Turnschuhen und beigefarbenem Mantel eilt Ursula von der Leyen in Kiew von Termin zu Termin – ein Balanceakt. Ministerpräsident Denys Schmyhal will feste Zeitpläne bezüglich des Beitritts hören, von der Leyen vermeidet es, sich auf Jahreszahlen festzulegen. Lieber will sie den Wiederaufbau planen, auch wenn niemand weiß, was am Ende wieder aufgebaut werden muss. Einmal kommt sie sogar in Kontakt mit richtigen Menschen. Im zentralen Postamt schaut sie sich an, wie die jüngste EU-Initiative ankommt. Die Menschen können ihre alten Glühbirnen gegen LED-Lampen austauschen. Sie lächelt für die Kameras, die Kunden lächeln zurück.
Von der Leyen wird als „ausgezeichnete Krisenmanagerin“ gelobt
Im Europäischen Parlament, wo Schimpftiraden auf die Kommission zum guten Ton gehören und die Kritik am unnahbaren Führungsstil der Deutschen auch nach der Pandemie nicht verstummte, vernimmt man dieser Tage viele lobende Worte – und das von Abgeordneten fast jeder Couleur. Von der Leyen habe sich als „ausgezeichnete Krisenmanagerin“ bewiesen, sagt eine grüne Abgeordnete hinter vorgehaltener Hand. Sie habe endgültig ihre Rolle gefunden und vor allem wieder die europäischen Grundwerte in den Fokus der Öffentlichkeit gehoben, meint der Liberale Moritz Körner: Frieden und Freiheit, Demokratie, Menschenrechte und Meinungsfreiheit. So geschlossen wie nie wollte der Westen auf Wladimir Putins Bomben reagieren und tatsächlich, der Zusammenhalt sollte für viele Monate das schärfste Schwert gegen den Kreml werden.
„Die Welt kann sehen, dass Einheit unsere Stärke ist“, hat von der Leyen gesagt, als man sich auf einem Sondergipfel auf neue Sanktionen gegen Russland geeinigt hatte. Pathos schwingt bei der Kommissionschefin stets mit, die 64-Jährige hält Sonntagsreden auch dienstagmorgens, und die neuerdings auch gerne in blau-gelben Outfits. Von der Leyen kann Inszenierung. Sie kann aber auch Krise. Selbst Manfred Weber (CSU), einerseits ihr Kollege in der christdemokratischen Europäischen Volkspartei (EVP), andererseits demontierter Verlierer gegen sie im Rennen 2019 um den Chefposten in Brüssel, lobt die „wichtige koordinierende Rolle“ von der Leyens. „Ihr ist es gelungen, die 27 EU-Staaten bei den Sanktionspaketen und der Reaktion der EU zusammenzuhalten“, sagt der EVP-Fraktions- und Parteivorsitzende. So sei die Gemeinschaft weit handlungsfähiger gewesen, „als das viele erwartet hatten, unter anderem wohl auch Putin“.
Von der Leyen kann Inszenierung. Aber sie kann auch Krise
Importverbot von russischer Kohle, Embargo gegen Rohöl von russischen Tankern – zwar bröckelte die Einheit im Klub der 27 immer wieder, am Ende rauften sich die Mitglieder aber irgendwie zu Kompromissen zusammen. Wer konnte sich vorstellen, dass die Europäer russische Banken aus dem Swift-System werfen oder das Guthaben der russischen Zentralbank einfrieren könnten? Wer hätte der Union zugetraut, so schnell und unkompliziert mehr als vier Millionen ukrainische Geflüchtete aufzunehmen? Dann folgte auch noch die Aufnahme eines Kriegslandes in den Kreis der EU-Beitrittskandidaten – in Rekordgeschwindigkeit, kein Wort, das für gewöhnlich mit der EU in Verbindung gebracht wird.
An der Fassade des Kongresszentrums in Kiew steht groß „Ukraine – der Schutzschild Europas“, auf der Landkarte daneben ist das kriegsgebeutelte Land als Pufferzone für die Raketen aus Moskau dargestellt. Selenskyj und Co. machen Druck, ob bei Waffenlieferungen, finanzieller Unterstützung oder eben beim EU-Beitritt. Sie haben in von der Leyen eine mächtige Verbündete. Die ist zutiefst beeindruckt vom Mut, vom Durchhaltevermögen, vom Willen der Ukrainer, und versteht sich auch als Brückenbauerin zwischen den Mitgliedstaaten und Kiew. Zu Hause muss sie auf der einen Seite die Befürworter eines schnellen Aufnahmeverfahrens und auf der anderen Seite die Skeptiker befriedigen. Wo sie steht, macht sie immer wieder klar. „Wir können niemals das Opfer ausgleichen, das die Ukrainer bringen.“
Am berühmten Maidan im Zentrum Kiews könnte man glatt vergessen, dass Krieg herrscht. Der Verkehr staut sich, ein paar Ukrainer stapfen durch den Schnee zur Arbeit. Und selbst die Sirenen, die plötzlich durch die Stadt heulen, nehmen viele nur noch achselzuckend wahr. „Wir sind müde“, sagt ein Mann, der in der Unterführung unter dem Platz einen Kiosk betreibt und sich als Sergej vorstellt. Luftalarm? „Don’t worry“, sagt er. Mach dir keine Sorgen. Irgendwie müsse das Leben ja weitergehen.
Die Ukrainer wollen in die EU, das machen sie mehr als deutlich
Putins Bomben, so scheint es, haben sie in den Alltag integriert. Vom hohen Besuch aus Brüssel hat Sergej in den Nachrichten gehört. Nun ist es keineswegs so, dass die Bewohner Kiews hohe Besuche nicht gewohnt wären. Die Großen und weniger Großen der Politik waren fast alle schon da, seit Putin seine Soldaten in die Ukraine schickte. Hände werden geschüttelt und Hilfen versprochen, die Kameras nie weit entfernt. Zyniker sprechen von einem neuen Politsport. Das Aufgebot an diesem Wochenende sorgt dennoch für besondere Aufmerksamkeit, insbesondere der EU-Ukraine-Gipfel am Freitag, wo abermals der Traum der Ukrainer an die Behördenchefin und den Ratspräsidenten Charles Michel, Vertreter der 27 Mitgliedstaaten, herangetragen wurde: Die Ukrainer wollen in die EU. Fantasien als Zweckoptimismus?
Wolodymyr Selenskyj hat einmal zu von der Leyen gesagt: „Wenn unsere Männer auf dem Schlachtfeld sterben, wollen sie zumindest wissen, dass ihre Kinder in der EU aufwachsen.“ Ein Satz, der bei ihr nicht nur einen Kloß im Hals, sondern auch Eindruck hinterließ. Und erklärt, warum von der Leyen schon früh vorgeprescht ist bei der Unterstützung des Antrags aus Kiew. Nicht allen gefiel das in den Hauptstädten Europas. Aber sie meint es ernst. „Die Ukrainer sind bereit, für die europäische Perspektive zu sterben. Wir wollen, dass sie mit uns den europäischen Traum leben“, sagte sie einmal. Von der Leyens Liebe zum Pathos passt besser in Kriegs- als in Friedenszeiten. Aber vor allem tröstet sie mit solchen Worten das tief verwundete Herz der Ukrainer.
EU will Abhängigkeiten von - etwa von China - loswerden
Der Wirtschaftskommissar Paolo Gentiloni nimmt sich eine kurze Pause von den Gesprächen mit den ukrainischen Politikern, schlendert durch das nüchterne Kongresshaus. Frische Luft bekommt er keine, das erlauben die schwer bewaffneten Soldaten an den Eingängen nicht, um das Gebäude herum stehen Barrikaden. „Russlands Aggression hat unsere Einheit gestärkt und die Sicherheitsfragen ganz oben auf unsere Tagesordnung gesetzt“, sagte Gentiloni unserer Redaktion. Das sei bis vor ein paar Monaten nicht der Fall gewesen. „Ich erinnere mich noch gut an unsere Reaktion nach der Annexion der Krim.“ Die sei „nicht so stark und geeint“ ausgefallen. Doch die Invasion hat die Europäer nicht nur mehr zusammengeschweißt oder die Stimmen der Zentral- und Osteuropäer in der EU mächtiger werden lassen.
Tatsächlich rüttelt der Krieg am Strukturellen. Plötzlich wird klar, was von der Leyen bei Amtsbeginn meinte, als sie eine „geopolitische Kommission“ beschwor. Eine Idee nach der anderen stellt die Behörde vor, mit der man Abhängigkeiten, etwa von China, loswerden will, egal, ob es um neue Chip-Fabriken, Rohstoffe oder die Trendwende in der Energiepolitik geht.
Der Krieg hat die Schwächen wie unter einem Brennglas offenbart
Der Krieg hat die Schwächen wie unter einem Brennglas offenbart. Das Bewusstsein, dass Europa hier mehr machen muss, setzte sich genauso in Brüssel durch wie die Überzeugung, dass man Europa aufs internationale Spielfeld rücken will und die gemeinsame EU-Sicherheits- und Verteidigungspolitik angehen muss. Neu aufstellen, handlungsfähiger werden, das alles schnell. Würde die Kommission auch noch diese nationalen Kompetenzen an sich reißen wollen? Die großen Mitgliedstaaten sträuben sich.
Es bestehe die Gefahr, so sieht es Manfred Weber, „dass dieses historische Zeitfenster“ nicht genutzt werde, um etwa die europäische Verteidigungsgemeinschaft voranzutreiben. „Ursula von der Leyen hat unsere volle Unterstützung, auf die Staats- und Regierungschefs Druck auszuüben, damit die EU weitreichende Entscheidungen trifft“, sagt der CSU-Mann.
Mehr Macht für Ursula von der Leyen, ihr dürfte die Vorstellung gefallen.