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EU: Timothy Garton Ash spricht in München über die Zukunft Europas

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Timothy Garton Ash spricht in München über die Zukunft Europas

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    Das Brexit-Wandbild des Streetart-Künstlers Banksy.
    Das Brexit-Wandbild des Streetart-Künstlers Banksy. Foto: Gareth Fuller/PA Wire (dpa)

    Es gibt so viele Gründe, an Europa, der Europäischen Union, zu zweifeln und zu verzweifeln, dass es im realpolitisch-grauen Tagesgeschäft – dem notwendigen Klein-Klein demokratischer Kompromissfindung – manchmal lohnt, innezuhalten. Und zum Beispiel Timothy Garton Ash zuzuhören. Das war diese Woche im Literaturhaus München möglich. Ausverkauft. EU-Heimspiel für einen Briten – und leidenschaftlichen Brexit-Gegner. 

    Wenn einer der andauernden Missstände der Europäischen Union, Europas, sein sollte, dass es oft schlecht gelingt, zu erzählen, was es ist, wo seine Möglichkeiten liegen, dann hat der britische Star-Historiker glänzend bewiesen, dass das Gegenteil möglich ist. Der in Oxford lehrende Professor für Europäische Studien hat gerade ein Buch vorgelegt "Europa – Eine persönliche Geschichte", und darin steht die lesenswerte Sentenz dieser Tage, wenn man so will. Das berühmte Motto des französischen Schriftsteller Romain Rolland aufgreifend schreibt Ash: "Wir brauchen vielmehr einen Pessimismus des Verstandes, einen Optimismus des Willens". Und schlussfolgert dann: "Das heutige Europa ist trotz seiner Fehler, Grenzen und Heucheleien, trotz aller Rückschläge der letzten Jahre immer noch viel besser als das Europa, das ich Anfang der 1970er Jahre zu erkunden begann, ganz zu schweigen von der Hölle, die mein Vater als junger Mann erlebte. (...) Es hat sehr wohl Sinn, ein freies Europa zu verteidigen, zu verbessern und zu erweitern. Es ist eine Sache, die unsere Hoffnung lohnt." 

    "Nenne mir dein Europa und ich sage dir, wer du bist."

    Ash, Jahrgang 1955, Sohn eines Vaters, der als Soldat nicht nur den D-Day in der Normandie überlebte, sondern die Befreiung des von den Nazis besetzten Kontinents erkämpfte, weiß, wovon er spricht. Seit über 50 Jahren recherchiere er daran, wie er erzählt, weit gereist, schon als junger Mann seine kleinen Notizbücher füllend. Ein reicher Erinnerungsschatz. Seine Version seines Europas. Dass es davon – bei einer weit gefassten geografischen Definition des Kontinents – 850 Millionen (wie die Zahl der Einwohner) gibt, ist ihm bewusst: "Nenne mir dein Europa und ich sage dir, wer du bist." 

    Ash, der immer wieder auch als Journalist arbeitet, beginnt seine europäische Bestandsaufnahme in "Westen", einem kleinen Dörfchen in Niedersachsen, wo sein Vater als 26-jähriger Armee-Offizier im Juni 1945 stationiert war. Er reist einer alten Schwarz-weiß-Fotografie hinterher, die Ash-Senior und die Kameraden seines Kanonier-Trupps zeigt, als sie sich gerade ein Kricket-Spiel ansehen. Jahrzehnte später ist Ash seinem Vater dorthin gefolgt, spricht mit den noch überlebenden Zeitzeugen und zieht von dort sein unfassbar kenntnisreiches europäisches Panorama auf. Ash, mit einer Polin verheiratet, kennt nicht zuletzt den Osten Europas (je nach Perspektive natürlich Mitteleuropa). Er kennt nicht nur Lech Walesa, den berühmten langjährigen Vorsitzenden der Gewerkschaft Solidarność, persönlich, sondern hat über die Jahrzehnte ein so dichtes Netzwerk an Kontakten geknüpft, dass ihm Einblicke in so viele Europas erlaubt – von Spitzenpolitikerinnen und Spitzenpolitikern bis eben zu den niedersächsischen Landwirtinnen und Landwirten. Dass er dabei schreibt und erzählt wie ein Reporter, weiß sein deutsches Publikum spätestens seit seinem viel gelobten Band "Ein Jahrhundert wird abgewählt". Der Gelehrte Ash unterhält wie wenige. Mit seinem neuen Buch, aber eben auch auf der Bühne. 

    Was Timothy Garton Ash von Bundeskanzler Olaf Scholz erwartet

    Trotz der schwierigen Zeiten. Als Zeitzeuge und Historiker, der vielfältige Zugänge hat, wird er in München natürlich nach Bundeskanzler Olaf Scholz, nach der Zeitenwende und nach der Rolle Deutschlands befragt. Und er sagt: "Scholz hat noch die Chance, die Angela Merkel nicht mehr hat." Es habe eine ganze Reihe von Bundeskanzlern gegeben, die anfangs unterschätzt wurden – etwa Helmut Kohl. Das Problem von Olaf Scholz, glaubt Ash, sei wohl gewesen, dass er in vielerlei Hinsicht bestens auf Friedenszeiten vorbereitet gewesen sei. Aber eben völlig unvorbereitet auf ein Kriegsszenario. Nun mag man einwenden: wie auch? Aber was Ash meint, ist, das "formative Moment" von Scholz' SPD-Biografie: die Entspannungspolitik, die Ostpolitik der SPD, die Friedensbewegung. Aber, so fährt Ash fort, mit den jüngsten Entscheidungen gewinne der anfangs vage Begriff der "Zeitenwende" an Substanz. "Ich erwarte nicht von der Bundesrepublik Deutschland, dass sie die führende Kraft sein wird in der militärischen Strategie für die Ukraine. Das kann Deutschland nicht und soll Deutschland nicht. Was ich mir aber erhoffe, ist eine Strategie für ein Europa nach dem Krieg, für die große Osterweiterung." 

    Es gebe in der deutschen Außenpolitik drei große strategische Würfe: die Westbindung Konrad Adenauers, die Ostpolitik Willy Brandts und die europäische Einigungspolitik von Helmut Kohl. "Und ich erhoffe mir jetzt einen vierten strategischen Wurf, nennen wir das erst mal die Gesamteuropa-Politik." Eine strategische Osterweiterung der EU und der Nato und "eine Vertiefung". Dass diese erweiterte EU eben auch funktioniert. "Das", sagt Ash, "wäre wirklich eine strategische Antwort, und dann würde sich Scholz ein gutes Kapitel in den Geschichtsbüchern verdienen." 

    Applaus in München. 

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