Man will sich vorstellen, dass Michel Claise bereits an seinem nächsten Roman schreibt. Könnte er besseren Stoff für die Geschichte geliefert bekommen als jenen, den er gerade selbst enthüllt? Der 66 Jahre alte Belgier ist nicht nur ein feingeistiger Schriftsteller. Er leitet als Untersuchungsrichter die Ermittlungen im Korruptionsskandal um die abgesetzte Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments, Eva Kaili.
Die Details der Affäre könnten wie aus einem seiner Krimis geklaut sein: Taschen und Koffer voller Schmiergeld, offenbar Bestechungsversuche aus Katar und Marokko, im Fokus der Vorwürfe aktuelle und ehemalige Politiker. Es geht um Gier, Macht und Einfluss. Und 1,5 Millionen Euro. Der Blick in die tiefen Abgründe im Finanzbereich ist das Spezialgebiet von Claise. „Es sind Schachspiele, bei denen die Strategie eine faszinierende Rolle spielt“, sagte er einmal in einem Interview mit der belgischen Zeitung Le Soir.
Der Ermittlungsrichter hat sich seit mehr als zwei Jahrzehnten der Bekämpfung von Betrug und Geldwäsche verschrieben und in dieser Zeit zahlreiche Politiker, Manager, Bankiers, Fußballfunktionäre und Luxus-Makler hinter Gitter gebracht. Als „Monsieur 100 Millionen“ wird er bezeichnet in Anspielung auf die astronomischen Summen, die er in seiner Karriere in die Staatskasse spülte. „Sollten wir nicht aufhören, das Geld nur aus den Taschen der arbeitenden Menschen zu nehmen, und vielmehr Jagd auf das schmutzige Geld machen?“ Verfolgt Claise eine Spur, lässt er nicht los.
Wirtschaftskriminalität ist "Krebsgeschwür der Demokratie"
Das hat ihm im Brüsseler Justizpalast den Spitznamen „Sheriff“ eingebracht, den er zwar nicht mag, aber auch nicht abschütteln kann. Nun ist der unerbittliche Blick des Star-Ermittlers auf das EU-Parlament gerichtet, sozusagen das Herz der europäischen Demokratie. Die Staatsanwaltschaft hat die Aufhebung der Immunität von Kaili beantragt. Am Donnerstag wird die Griechin zum Haftprüfungstermin erwartet. Auf Wohlwollen darf sie bei Claise nicht hoffen, denn viel Vertrauen in die Politik scheint der Mann mit dem ausgeprägten Gerechtigkeitsempfinden nicht zu haben. Das demokratische Prinzip sei „foutu“, „im Eimer“. Die Schuld schob er der Finanzkriminalität zu, „dieser Art des absoluten Willens zur Macht durch Geld". Claise webt die düsteren Gedanken vom Einfluss des schmutzigen Geldes auf die Gesellschaft immer wieder in seine Bücher ein: „Wirtschaftskriminalität ist das Krebsgeschwür der Demokratie."
Claise wurde als Baby in einem Körbchen ausgesetzt
Claise betrachtet sich selbst an erster Stelle als Humanist, der sich leiten lässt von den revolutionären humanistischen Werten Frankreichs. Kein Wunder, dass er es bedauert, Jura studiert zu haben statt Philologie. Doch nachdem seine Eltern ihn als Baby in einem Körbchen in der Bäckerei der Großeltern aussetzten, wuchs er unter deren strengen Erziehung im Brüsseler Stadtteil Anderlecht auf. Die Großeltern, einfache Handwerksleute, übergingen die Leidenschaft des Enkels für Bücher und folgten dem Rat der Lehrer, die meinten, als Klassenbester solle man Jura studieren. Claise wurde Rechtsanwalt und Mitglied der Freimaurerloge, dann Richter. Seinen Drang nach den schönen Künsten kompensiert er seitdem mit Literatur, mit Kunst – und dem Schreiben. Zwölf Bücher hat er bereits veröffentlicht.