Die EU gefällt sich in der Inszenierung. Stets braucht es ein bisschen Drama, damit jeder am Ende sagen kann, auch wirklich hart verhandelt oder seine Interessen durchgesetzt zu haben. Umso bemerkenswerter ist es, dass sich das in Brüssel beliebte Personalkarussell schon nicht mehr zu drehen scheint. Es zeichnet sich ab, dass sich die Mitgliedstaaten bereits eine Woche nach der Europawahl auf ihre bevorzugten Kandidaten für die Spitzenposten geeinigt haben.
Ursula von der Leyen darf sich Hoffnungen auf eine zweite Amtszeit als Präsidentin der EU-Kommission machen. António Costa aus Portugal wird als Präsident des Europäischen Rates, also des Gremiums der 27 EU-Länder, gehandelt und Kaja Kallas aus Estland als Chefin der Außenpolitik. Roberta Metsola aus Malta soll Präsidentin des Europäischen Parlaments bleiben. Doch bei der EU ist man stets auf Überraschungen vorbereitet. Und die angebliche Einigung käme ungewöhnlich früh – "zu früh, um wahr zu sein?", wie ein Diplomat argwöhnisch scherzte?
An Ursula von der Leyen führt wohl kein Weg vorbei
Tatsächlich dürfte noch keine endgültige Entscheidung fallen, wenn die 27 Staats- und Regierungschefs an diesem Montagabend zum informellen Abendessen zusammenkommen. Zunächst wollen die Staatenlenker ein Tableau erstellen. Welches Amt geht an welche Parteienfamilie? Die starken Fraktionen der politischen Mitte Europas, also Konservative, Sozialdemokraten und Liberale, verteilen die vier Topjobs in der Regel unter sich und schnüren dafür ein Personalpaket.
Die christdemokratische Europäische Volkspartei (EVP) ging als deutliche Siegerin aus den Europawahlen hervor. Dementsprechend wahrscheinlich ist es, dass die Spitzenkandidatin Ursula von der Leyen Chefin der Brüsseler Behörde bleibt. "Man kommt um sie nicht herum, selbst wenn man wollte", sagte ein EU-Offizieller. Der Optimismus bezüglich des Zeitrahmens rührt auch daher, dass die wichtigsten Vermittler im Kampf um die Ämter, Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, zu Hause massive Verluste erlitten haben.
Ihre Verhandlungsmacht in Brüssel ist damit deutlich geschwächt. Hinzu kommt, dass sich Macrons Aufmerksamkeit auf die Neuwahlen in Frankreich richten dürfte und nicht auf den Personalpoker in Brüssel. Sollte Scholz die Deutsche im Rat nominieren und sich eine qualifizierte Mehrheit hinter von der Leyen stellen, müsste sie im Anschluss vom EU-Parlament gewählt werden.
Kaja Kallas könnte den umstrittenen Josep Borrell ablösen
Zweitstärkste Kraft bei den Europawahlen waren die Sozialdemokraten. Sie wollen künftig den Präsidenten des Europäischen Rates stellen, also den Nachfolger von Charles Michel, der bislang die Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs leitet. Seit Monaten schon geistert der Name des ehemaligen portugiesischen Ministerpräsidenten herum: António Costa. Dass seine Benennung noch nicht als beschlossene Sache gilt, liegt an dessen rechtlichen Problemen. Nach Korruptionsvorwürfen und Ermittlungen im Umfeld von Costa war er vergangenen November zurückgetreten.
Doch wurde der 62-Jährige, der stets seine Unschuld beteuerte, selbst einer Straftat verdächtigt? Selbst acht Monate später bleibt der Fall ein Rätsel. Es wurde zwar keine Anklage gegen Costa erhoben, aber die Staatsanwaltschaft scheint ihre Ermittlungen gegen ihn auch nicht eingestellt zu haben. In zahlreichen europäischen Hauptstädten wird das Gerichtsverfahren gegen den im Kreis der Staats- und Regierungschefs beliebten Costa jedoch nicht als Hindernis betrachtet. Oder könnte Dänemarks Premierministerin Mette Frederiksen doch noch für kurzfristige Planänderungen sorgen? Die Sozialistin rechnet sich ebenfalls Chancen auf das Amt aus.
Roberta Metsola könnte als Parlamentspräsidentin weitermachen
Dann wären da noch die Liberalen. Die hätten mit der estnischen Ministerpräsidentin Kaja Kallas die auf dem Papier perfekte Kandidatin für das Amt des EU-Außenbeauftragten, bislang in der Hand des umstrittenen Spaniers Josep Borrell. In der Heimat unter Druck, tat sich die Baltin als eine der schärfsten Kritikerinnen des russischen Regimes hervor. Mit ihrem harten Kreml-Kurs löste sie zwar bei einigen europäischen Staatenlenkern zeitweise Irritationen aus, doch mittlerweile scheinen auch die Skeptiker überzeugt, dass sie als Chefdiplomatin der EU auch den Nahen Osten und Afrika im Blick behalten würde. Zudem würde sie als Osteuropäerin geografisch die Anforderung erfüllen und auf Topjob-Ebene für einen Ausgleich zwischen West- Süd- und Mitteleuropa sorgen.
Auf dem Wunschzettel der EVP-Verhandlungsführer steht zu guter Letzt noch Roberta Metsola. Die konservative Malteserin soll Präsidentin des EU-Parlaments bleiben, zumindest für weitere zweieinhalb Jahre. Auch hier haben sich bislang keine Störer zu Wort gemeldet.