Eigentlich wollten die europäischen Staats- und Regierungschefs an diesem Donnerstag harte Vertragsarbeit leisten. Als dieser EU-Gipfel geplant wurde, ging man davon aus, dass der neue Handelsvertrag zwischen der Union und Großbritannien fertig auf dem Tisch liegen würde. Schließlich sind es noch gerade mal zweieinhalb Monate, bis das Vereinigte Königreich am 1. Januar 2021 aus dem Binnenmarkt und der Zollunion ausscheidet – und alle strittigen Fragen sind unbeantwortet.
Boris Johnson machte 15. Oktober zum Ultimatum bei Brexit-Verhandlungen
Mehr noch: Der britische Premier Boris Johnson hatte diesen 15. Oktober zu einem Ultimatum erhoben, an dem er für den Fall ausbleibender Fortschritte die Gespräche beenden wollte. Kurz vor dem Gipfel hatten Johnson, EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und EU-Ratspräsident Charles Michel noch miteinander telefoniert, was Johnsons Sprecher anschließend mit den Worten kommentierte: „Ein Deal ist wünschenswert, aber der Premier ist enttäuscht, dass in den vergangenen zwei Wochen nicht mehr Fortschritte erreicht wurden.“ London will nun im Lichte der Ergebnisse des EU-Spitzentreffens entscheiden, wie man sich verhalten werde. Spätestens Montag wird eine Antwort von der Insel erwartet.
Man darf gespannt sein, denn in Brüssel hielten die 26 Staats- und Regierungschefs (der polnische Premier Mateusz Morawiecki fehlte, weil er sich in Quarantäne begeben musste) ihre Linie vor allem in einem Punkt durch: Die EU, so betonten Diplomaten, werde „den Verhandlungstisch sicher nicht verlassen“. Soll heißen: Wenn Johnson die Gespräche beenden will, muss er das tun und dafür auch geradestehen. Deshalb notierten die Staatenlenker lediglich ihre „Besorgnis“, weil die Fortschritte bei den wichtigsten Fragen „noch nicht ausreichend“ seien. Jetzt müsse man intensiver miteinander reden. So formulierte man am Donnerstagabend für das Schlussdokument des Gipfels. Mehr gab es für den britischen Premierminister nicht.
Es habe kürzlich Fortschritte in den Brexit-Verhandlungen gegeben
„Es ist leider irgendwie wie immer mit Boris Johnson“, erklärte der Vorsitzende des Handelsausschusses im EU-Parlament, Bernd Lange (SPD), gestern. „Kurz vor Toresschluss liegen die Karten immer noch nicht auf dem Tisch.“ Aber wie auch der Chef des Auswärtigen Ausschusses der EU-Volksvertretung, David McAllister (CDU), sprach er immerhin von „Fortschritten in den vergangenen Tagen“.
Allerdings auch von neuen Streitpunkten wie der Attacke Londons auf den Ausstiegsvertrag und die Garantie eines grenzfreien Miteinanders von Nordirland und Irland. Was den Abgeordneten ebenso wie den Staats- und Regierungschefs nun vorschwebt, ist ein Aufbruch: Ab kommenden Montag soll rund um die Uhr und ohne Unterbrechung an den Wochenenden weiter verhandelt werden. Denn ohne Deal droht am 1. Januar blankes Chaos.
Zwar hat man in Brüssel inzwischen vorgesorgt und einseitig bereits Übergangsregelungen für über 100 Einzelfragen beschlossen, die bis zu 18 Monate Bestand haben sollen. Es geht etwa um die über 2000 Medikamente, die ihre Zulassung für den EU-Markt in Großbritannien erworben haben. Diese Zertifizierung würde entfallen. Betroffen sind auch die Luftverkehrskontrolle, der Flug-, Schiffs- und Straßenverkehr. Alles ist dringend notwendig, um die Versorgung der Menschen nicht zu riskieren.
No-Deal-Brexit könnte gravierende Folgen haben für die EU haben
Die Vorstellung, so sagte am Donnerstag ein hochrangiger Regierungsdiplomat, dass „ab dem 1. Januar Lastwagen mit wichtigen Gütern auf britischer oder europäischer Seite im Stau stecken und die Ladungen vergammeln, obwohl diese Lieferungen gerade in der Coronavirus-Krise dringend gebraucht werden, ist unvorstellbar“. Das Bild käme einer Realität ohne Deal wohl ziemlich nahe.
Die Staats- und Regierungschefs ließen sich jedenfalls am Donnerstag nicht aus der Ruhe bringen – oder sie gaben sich Mühe, diesen Eindruck zu erwecken. Sie stellten sich hinter EU-Chefunterhändler Michel Barnier, stärkten ihm den Rücken und ließen Fragen, ob die Union London nicht auch ein wenig entgegenkommen könne, unbeantwortet. Zeit, so hieß es, habe man noch genug. Wenn ein Handelsvertrag Anfang November ausgearbeitet und von beiden Seiten gebilligt vorliege, reiche das allemal noch, um das Ratifizierungsverfahren im Europäischen Parlament durchzuziehen.
Deutlich eiliger hatte es EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen: Sie verließ den EU-Gipfel frühzeitig, um sich in Corona-Quarantäne zu begeben. Sie habe erfahren, dass ein Mitglied ihres Empfangsbüros positiv auf Corona getestet worden sei, twitterte sie kurz nach Beginn des Treffens.
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