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Essay zum Unabhängigkeitstag: It's complicated: Das amerikanische Drama

Essay zum Unabhängigkeitstag

It's complicated: Das amerikanische Drama

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    Was ist nur aus den USA geworden? Eine Analyse zum Unabhängigkeitstag.
    Was ist nur aus den USA geworden? Eine Analyse zum Unabhängigkeitstag. Foto: Imago

    Wie soll das gehen, einen Abschiedsbrief an jemanden verfassen, von dem man gar nicht wirklich Abschied nehmen will? Weil da immer noch so viele Gefühle sind, Zuneigung klar, aber Liebe auch, fast schon Leidenschaft, das ganz große Kino eben. Weil der Beziehungsstatus so verflixt kompliziert ist, weil man irgendwie weiß, es geht so nicht mehr weiter, aber wie soll es ohneeinander gehen?

    Stimmt alles, jedes Wort. It’s complicated. Aber America, we need to talk, wir müssen reden. Und weil es für schwere Gespräche keinen leichten Anlass gibt, muss das heute sein, an Deinem Jubeltag, an dem Du an Deinen (zwei) wunderschönen Küsten, in Deiner endlosen, aber auch endlos spannenden Mitte, sogar ganz oben in Alaska und ganz unten in Florida Raketen in die Luft steigen lässt, Deine Fahne schwenkst, den Barbecue-Grill anschmeißt und mit Sicherheit viel zu eng beisammen bist, Corona hin oder her: an Deinem Unabhängigkeitstag, dem 4th of July, dem 4. Juli. Das ist der Tag, an dem Du vor 244 Jahren uns alle erst so richtig gerade hast werden lassen.

    Am Ende geht es um das Recht aufs Glücklichsein

    Der aufrechte Gang beim Menschen, er ist im wunderschönen Allgäu (mit)erfunden worden, das wissen wir seit kurzem. Aber dass der Mensch aufrecht vor Königsthronen stehen kann, als Subjekt der Geschichte und nicht nur als Objekt, das haben wir auch Dir zu verdanken, liebes Amerika, und diesen paar Worten in Deiner Unabhängigkeitserklärung, die so klein daher kommen und doch so Großes, so Ungeheures aussagen: All men are created equal, klar, aber wie es dann weitergeht: inalienable rights, unabdingbare Rechte, darunter the pursuit of happiness, wow!

    Auf einmal ging es also im Menschenleben nicht mehr einfach darum, einem Herrn zu dienen, sich mühsam durch den mühsamen Tag zu schleppen: nein, am Ende geht es um Happiness, um das Recht aufs Glücklichsein. Was mit Spaßgesellschaft völlig falsch übersetzt wäre. Das ist die DNA der Vereinigten Staaten von Amerika, dem wohl kühnsten Demokratie-Experiment, das dieser Planet je gesehen hat.

    Was ist aus der leuchtenden Stadt auf dem Hügel geworden?

    Wer würde nicht so einen Mitbewohner auf diesem Planeten haben wollen? Wer würde nicht sogar bei so einem leben wollen? Ich jedenfalls wollte beides, so lange ich denken kann. Und damit war ich ja nie alleine, auch unsere Kanzlerin träumte als Jugendliche von Blue Jeans und amerikanischer Freiheit, das erzählt sie gerne. Und die Menschen, die nach Amerika strömten, die nach Amerika strömen, sie mochten nie einfach Gäste sein, sie wollten Amerikaner werden. Sehr viele wollen das noch immer, unbedingt, the shining city upon a hill, wie Amerika sich selber gerne sieht, das leuchtende Symbol oben auf dem Hügel, das scheint, noch immer.

    Klar, liebes Amerika, Du hast in den Jahren immer mal furchtbar genervt, Du warst launisch, unberechenbar, auch grausam. Und ja, als Du Deine Unabhängigkeitserklärung verfasst hast, waren keine Frauen dabei. Und manche der Gründerväter hielten sich ganz selbstverständlich Sklaven. Deine Ureinwohner hast Du erst massakriert, in Deinem ewigen Vorwärtsdrang, und schließlich in Reservate gestopft. Du hast einen Bürgerkrieg geführt, und als der vorbei war, gab es zwar offiziell keine Sklaverei mehr, aber den Rassismus natürlich noch, es gibt ihn heute noch, Black Lives Matter muss man deswegen heute noch betonen, es ist leider nicht selbstverständlich. Du hast Dich im unseligen Demokratie-Export per Invasion versucht, Du warst ein sehr arroganter und sehr oft auch paranoider Kalter Krieger.

    Trump ist keine Verirrung, eher eine logische Entwicklung

    Aber Du hast auch so selbstlose Akte vollbracht, etwa als Du die Nazis besiegen halfst, danach eine Weltordnung entwickeln halfst, von der Du profitiert hast, natürlich, aber so viele andere auch. Wir Deutsche haben das vielleicht am stärksten erfahren, als vor allem Du uns wieder aufnahmst in der Weltgemeinschaft der zivilisierten Völker. Und deswegen ist diese soft power Amerikas ja noch so stark, wie Politologen jene Anziehungskraft nennen, für die es keine Gewehre braucht, Deine Bücher, Deine Filme, Deine Städte, Deine Serien, Deine Unternehmen, Deine Unis …

    Zahlen und Fakten zur Finanzkrise

    Rund 800 Milliarden Euro: So viel Geld haben die sechs größten EU-Staaten und die USA in den Monaten nach dem Lehman-Crash im September 2008 aufgewendet, um die Finanzbranche zu stützen. Nach Berechnungen der Finanzbranche entfielen auf die USA 471,5 Milliarden Euro, gefolgt von Großbritannien (129,2 Milliarden), den Niederlanden (80,4 Milliarden), Deutschland (74,3 Milliarden), Frankreich (30,0 Milliarden), Spanien (19,0 Milliarden) und Italien (10,0 Milliarden).

    Rund 50.000: So viele Anleger waren aus Deutschland betroffen. Viele von ihnen hatten die Zertifikate der niederländischen Lehman-Tochter gekauft. Da die Zertifikate nicht der Einlagensicherung unterlagen, waren sie nach der Insolvenz wertlos. Nach Schätzungen von Verbraucherschützern hatten die Anleger bis zu eine Milliarde Euro investiert. In komplizierten Prozessen konnte ein Teil Vergleiche schließen, Teilentschädigungen oder Abschlagszahlungen aus der niederländischen Insolvenzmasse bekommen.

    17 Milliarden Euro: So groß war am Ende die Insolvenzmasse im Verfahren um den deutschen Ableger, das Frankfurter Lehman Brothers Bankhaus AG. Nach neun Jahren wurden damit die 750 Gläubiger entschädigt sowie Steuern und Honorare der Insolvenzverwaltung bezahlt.

    2500 Euro: So hoch war die Abwrackprämie, die im Zuge des dramatischen Konjunktureinbruchs 2009 für das Verschrotten alter Autos gezahlt wurde. Insgesamt gingen binnen eines Jahres knapp zwei Millionen Anträge ein, der Fördertopf wurde auf fünf Milliarden Euro erhöht. Mit weiteren Milliardenspritzen wurde versucht, die tiefe Rezession abzufedern – und hunderttausende Arbeitsplätze konnten durch Kurzarbeitsregelungen und Beitragsentlastungen der Arbeitgeber gerettet werden.

    50: So viele Gesetze und Verordnungen listet allein das deutsche Bundesfinanzministerium als Folge des Lehman-Zusammenbruchs und der Finanzkrise auf. Bereits einen Monat nach der Lehman-Pleite wurde im Eilverfahren das Finanzmarktstabilisierungsgesetz beschlossen, von besonderer Bedeutung war das vom Namen her längste Gesetz: „Gesetz zur Abschirmung von Risiken und zur Planung der Sanierung und Abwicklung von Kreditinstituten und Finanzgruppen“.

    Und trotzdem, Amerika, erkenne ich Dich gerade nicht wieder. Oder vielmehr, ich muss die Augen zukneifen, um zu glauben, dass es wirklich so schlimm kommen konnte. Dabei hätten wir es lange kommen sehen können. Die (George-W.-)Bush-Jahre waren schon schlimm, die Zeit nach dem 11. September 2001, als das Land sich in blinder Vergeltung für einen (furchtbaren) Terrorangriff in einen furchtbaren Rache-Feldzug verstrickte, Waterboarding inklusive. Bald dann ging von den USA die Weltfinanzkrise aus, in der ein paar Oberzocker erst alles verzockten, zur Belohnung noch staatlich gerettet wurden und bald wieder dicke Boni einstrichen, während so viele Mittelschichtler bis heute ihre Schulden abstottern.

    Die Amerikaner wussten, auf wen sie sich einließen

    Die wurde kurz überstrahlt vom Anfangsglanz der Obamas, der versprach, es werde keine roten (Republikaner!) und blauen Staaten (Demokraten!) mehr geben, sondern nur noch die Vereinigten Staaten – doch er konnte mit seinen Reformen, mit seinem Charisma nur die Wunden lindern und notdürftig verbinden, nicht heilen. Ein Symbol für Obamas Amtszeit bleibt auch die Karriere einer Sarah Palin, die furchtbar stolz darauf war, furchtbar wenig von der Welt zu wissen und über so etwas Albernes wie den „Staat“ oder „Kompromissbereitschaft“ nur Witze machen konnte.

    Auch mit Blick auf sie ist Trump nun keine Aberration, eher eine logische Entwicklung. Die Amerikaner wussten ja auch, auf wen sie sich einließen, seinen Quatsch, dass Amerika immer einen bad deal bekommen habe, hat Trump schon in den 1980er Jahren verzapft. Aber irgendwann war das System reif für einen wie ihn, sturmreif geschossen von den Milliarden der Lobby-Kampfgruppen, von dem Wahnsinn eines anachronistischen Wahlrechts, von Medien, die Ideologie mit Journalismus verwechseln.

    George Packer, moderner Chronist dieser gespaltenen Staaten von Amerika, hat in einem Essay für den Atlantic sein eigenes Land zum failed state erklärt, zum gescheiterten Staat, einer Art Bananenrepublik. Er schreibt: „Die USA reagieren auf Corona wie Staaten wie Pakistan oder Belarus, wie ein Land mit heruntergekommener Infrastruktur, mit einer dysfunktionalen Regierung, dessen Spitzenvertreter entweder zu korrupt oder zu dumm sind, um massenhaftes Leid zu verhindern.“

    In Washington regieren ein Trickbetrüger und seine intellektuell bankrotte Partei

    Packer beschreibt Amerika wie einen Corona-Hochrisikopatienten, mit vielen Vorerkrankungen: „In reichen Städten bauen global vernetzte Fachkräfte auf ein Heer unsichtbarer und prekär beschäftigter Dienstleister. Auf dem Land revoltieren Gemeinschaften im Niedergang gegen die moderne Welt. In den sozialen Netzwerken hagelt es Hass und Verunglimpfung …, und in Washington regieren ein Trickbetrüger und seine intellektuell bankrotte Partei. Im ganzen Land herrscht eine Stimmung von zynischer Erschöpfung, ohne jede Vision oder eine gemeinsame Idee von der Zukunft.“

    Wer kann das ändern? Wir regen uns in Deutschland oft auf, dass unsere Parteien durchschnittliches Personal anziehen und fördern. Aber Amerika, jenes Land, in dem viele der witzigsten Menschen der Welt leben, die klügsten, die wagemutigsten (wer das nicht glaubt, muss bitte einfach mal hinfahren, wenn das wieder geht), erlebt im Kampf um das Weiße Haus nun einen Zweikampf zwischen einem Mann, der in trauriger Umkehr von Abraham Lincolns berühmtem Diktum „mit Bosheit gegenüber allen, mit Nächstenliebe gegenüber niemandem“ regiert, Trump also – und einem Mann, der sehr müde ist, was man mit 76 sein darf, aber keine sonderlich gute Eigenschaft ist, wenn man mächtigster Mann der Welt werden möchte, Sleepy Joe Biden, so nennt Trump ihn.

    Ist es Zeit aufzugeben? Oder weiterzukämpfen um unseren amerikanischen Traum?

    Mag sein, dass Biden gar gewinnt. Aber Du altes Amerika, wirst Du wieder kommen? Ich fürchte nicht. Gewiss, es hat immer schon Phasen gegeben, in denen es zwischen uns nicht so gut lief. Doch es könnte nun ein Punkt kommen, an dem wir uns entscheiden müssen. Was machen wir, sollte Trump doch wieder gewinnen am 3. November? Reicht es dann, wie einst der britische Daily Mirror am Tag nach der Wiederwahl von George W. Bush zu titeln: How can 59.054.087 Americans be so stupid? Oder müssen wir uns dann eingestehen, dass unser Verhältnis vielleicht nie wieder so wird wie vorher? Und wird vielleicht sogar nach Trump wenig wieder wie vorher? Müssen wir dann diesen Abschiedsbrief abschicken?

    Thomas Kleine-Brockhoff, Vizepräsident der Denkfabrik „German Marshall Fund“ in Berlin, sagt: „Trump ist nicht nur eine Verirrung der amerikanischen Geschichte, sein Wahlerfolg gründet auf tief sitzender Globalisierungskritik weiter Teile der Bevölkerung: auf einer Kritik an Handelsregeln, an Migration, auch an militärischer und weltpolitischer Überdehnung. Diese Kritik würde auch nach Trump zunächst mal bleiben, weil man ja einen Präsidenten, aber nicht die Bevölkerung austauscht.“

    Doch ist Aufgeben wirklich eine Option? Und würden uns das jene Amerikaner verzeihen, die uns immer mit ihrem Optimismus so begeistert haben? Kleine-Brockhoff, ganz transatlantischer Kämpfer, sagt: „In der Politik gibt es nie ein Ende, sondern jeden Tag einen neuen politischen Wettbewerb der Ideen.“ Also, weiterkämpfen um unseren amerikanischen Traum.

    Recht hat der Mann. Klar können wir Abschiedsbriefe schreiben. Aber, damn it, America, abschicken kann ich ihn zumindest nicht. Denn es ist ja doch irgendwie auch wieder ein Liebesbrief geworden. Also: Happy 4th of July!  Wobei: Fröhlichen Unabhängigkeitstag? Vielleicht besser: Alles Gute, Amerika! All the best!

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