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Essay: "Wir schaffen das": Merkels Triumph und Tragik – in drei Worten

Essay

"Wir schaffen das": Merkels Triumph und Tragik – in drei Worten

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    Angela Merkel hat vor fünf Jahren gesagt: "Wir schaffen das". Doch die Folgen der Flüchtlingskrise sind noch lange nicht ausgestanden.
    Angela Merkel hat vor fünf Jahren gesagt: "Wir schaffen das". Doch die Folgen der Flüchtlingskrise sind noch lange nicht ausgestanden. Foto: Christoph Soeder, dpa

    Angela Merkel ist keine große Rhetorikerin. Präziser formuliert: Merkels rhetorisches Geschick (manche sagen auch: ihre rhetorische Neigung) ist so klein ausgeprägt, dass die Bundeskanzlerin bisweilen stundenlange Reden zu halten vermag, ohne dass beim Zuhörer auch nur ein Wort wirklich hängen bliebe. Daher ist in der an Überraschungen reichen politischen Karriere der Angela Merkel eine Überraschung die vielleicht größte: dass ausgerechnet diese erklärte Nicht-Rednerin mit einer Redewendung in die Geschichtsbücher eingehen wird: „Wir schaffen das.“

    Gewiss, viele von Merkels Vorgängern haben Worte hinterlassen, die sie charakterisierten. Willy Brandt wird für immer „mehr Demokratie wagen“, selbst wenn der Satz zunächst kaum auffiel. Helmut Kohl wurde die „blühenden Landschaften“ nie mehr los und auch Gerhard Schröder muss bis heute damit klarkommen, der „Basta“-Kanzler gewesen zu sein.

    Angela Merkel geht mit einem Satz in die Geschichtsbücher ein: "Wir schaffen das"

    Merkel hat mit ihren drei geflügelt gewordenen Worten ebenfalls rasch gehadert. Schon nach einem Jahr erklärte sie, den Satz in dieser Form nicht mehr verwenden zu wollen, weil er zu einer bloßen Leerstelle geworden sei, auf die jeder Zuhörer ganz nach Belieben seine Sicht der Welt – und natürlich vor allem seine Sicht auf ihre Flüchtlingspolitik – projiziere.

    An der Grenze zwischen Sudan und Lybien wurde eine Gruppe von Flüchtlingen bereits im Mai 2014 aus der Wüste gerettet.
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    Die Flüchtlingskrise von 2015 spaltete die Gesellschaft. Wir zeigen bewegende Bilder über eine Zeit, die in Erinnerung bleiben wird.

    Sie wird ihn freilich nicht mehr los. Und sie kann auch nicht verhindern, dass man ihn ungeheuer aufgeladen hat, obwohl er eigentlich so banal daherkommt. Was hätte die Regierungschefin des stärksten Landes Europas damals eigentlich sonst sagen sollen: Wir schaffen das nicht? Als Barack Obama wenige Jahre zuvor „Yes, we can“ skandiert hatte, hing die Welt an seinen Lippen, und niemand fragte, was wer wann wie genau könne.

    Aber Obama hat diesen Aufbruchsgeist – wie fast jeder US-Politiker – so gut wie jeden Tag vorgelebt. Merkel war und ist völlig anders: Ihr klebte stets der Vorwurf an, trotz aller politischen Umfrage- und Wahlerfolge keine echten politischen Leidenschaften zu zeigen. Sie brenne für kein einziges Projekt, hieß es, für keine einzige mutige Reform. Wenn Merkel den Euro stützen, Banken retten, Energiewenden einleiten musste, wirkte es stets, als sei es eben das, was gerade auf ihrem Terminkalender eingetragen sei. Sie hat einmal selber von sich gesagt, mal liberal zu sein, mal konservativ, mal christlich-sozial …

    Und nun, urplötzlich: diese Bestimmtheit, diese Bereitschaft, sich in den politischen Kampf zu werfen, auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise, als das Land buchstäblich an seine Grenzen stieß und Deutschland ein „Rendezvous mit der Globalisierung“ (Wolfgang Schäuble) erlebte. Merkel beharrte: „Ich sage wieder und wieder. Wir können das schaffen und wir schaffen das.“ Bald schon legte sie gar nach, fast eingeschnappt, es sei nicht mehr ihr Land, wenn sich Deutsche dafür entschuldigen müssten, in Notsituationen ein freundliches Gesicht zu zeigen.

    Merkel thront heute wieder auf dem Umfrage-Thron

    Über ihre Motive ist viel gerätselt worden. War es die eigene Erfahrung, sich als Ostdeutsche in ein neues Land eingliedern zu müssen, die sie mit den Geflüchteten verband? Oder doch das Gewissen, als Pastorentochter? Sie hat sich nicht mehr groß dazu erklärt. Klar ist aber, dass sich in diesen drei dürren Worten Triumph und Tragik der Angela Merkel bündeln.

    Denn vieles, sehr vieles ist ja geschafft worden. Der Kontrollverlust, von dem die Seehofers und Co. in der damaligen Zeit raunten, er ist nicht eingetreten, ebenso wenig wie die Herrschaft des Unrechts. Mehr Geflohene als oft befürchtet schafften die Integration in den Arbeitsmarkt, Europa ist nicht implodiert. Merkel thront heute wieder auf dem Umfrage-Thron, genau wie ihre Partei, als einzige Volkspartei. Die CDU, sogar die CSU, werden Merkel vermissen.

    Nur: Wie geschafft ist das Land? Und welcher Preis wurde gezahlt? Merkel selbst hat ihre „Willkommenskultur“ rasch und diskret erkalten und erhärten lassen, schmutzige Deals mit zweifelhaften Herrschern wie Erdogan geschlossen. Der Heiligenschein, der sie umgab, strahlt bei genauerem Hinsehen nur matt. Und: Ihre absolute Entschlossenheit, auch ihre Weigerung, Fehler zuzugeben, hat das Land gespalten. „Wir schaffen das“ klang vielen, als sehe Merkel nur Chancen der Integration, keine Probleme. Auch deswegen kündigte sie vorzeitig ihre politische Rente an.

    Ein Flüchtling, der kurz zuvor mit einem Zug angekommen ist, läuft über den Bahnsteig und hält dabei ein Foto von Angela Merkel in den Händen.
    Ein Flüchtling, der kurz zuvor mit einem Zug angekommen ist, läuft über den Bahnsteig und hält dabei ein Foto von Angela Merkel in den Händen. Foto: Sven Hoppe, dpa

    Angela Merkel hat „Wir schaffen das“ politisch überlebt

    Es ist eine Volte der Geschichte, dass all dies zum fünften Jahrestag des Satzes weit weg erscheint. Das liegt auch an der Corona-Krise, deren Unwucht selbst die Flüchtlingsherausforderungen in den Schatten stellt. Merkel glänzt als Krisenmanagerin, Ex-Kritiker wie Bayerns Ministerpräsident Markus Söder stehen fast bewundernd an ihrer Seite. Die AfD, welche Merkel rechts von der Union so hat erstarken lassen, dass diese nicht nur im Bundestag, sondern in allen Landtagen der Republik sitzt, wirkt im Vergleich wie eine Chaotentruppe.

    Und doch: Viele Brüche und Verrohungen der Corona-Zeit sind ohne die Verwundungen der Flüchtlingszeit nicht zu verstehen. Verteilungs- und Kulturkonflikte – zwischen Alt und Jung, zwischen Ost und West, zwischen Neuankömmlingen und Eingesessenen – wurden durch ökonomische Boomjahre abgefedert und könnten im Abschwung ganz neu aufbrechen. Von einer europäischen Migrationslösung bleiben wir weit entfernt.

    Angela Merkel hat „Wir schaffen das“ politisch überlebt, das ist ihr Triumph. Doch dass dieser Satz wahr wird, wird sie vielleicht nie erleben, das ist auch ihre Tragik.

    Dieser Text ist Teil unserer Themenwoche "5 Jahre Flüchtlingskrise - Wir schaffen das". Alle Artikel finden Sie hier.

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