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Lesetipp: Was bedeutet es heute noch, katholisch zu sein?

Lesetipp

Was bedeutet es heute noch, katholisch zu sein?

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    Der Kirche den Rücken kehren? Vor dieser Entscheidung stehen immer mehr Menschen in Deutschland. Unser Foto zeigt eine Aufnahme vom Katholikentag, der aktuell in Stuttgart stattfindet.
    Der Kirche den Rücken kehren? Vor dieser Entscheidung stehen immer mehr Menschen in Deutschland. Unser Foto zeigt eine Aufnahme vom Katholikentag, der aktuell in Stuttgart stattfindet. Foto: Marijan Murat, dpa

    Im vergangenen Winter saß ich auf einem Geburtstag neben einer Bekannten. Wir unterhielten uns, die Themen waren leicht, ein klassisches Partygespräch. In einem Nebensatz erzählte sie mir, dass sie sich in ihrer Kirchengemeinde engagiere, bald wieder die Sternsinger betreuen werde. Mit dem Kopf nickte sie in Richtung ihres Partners und verzog das Gesicht. Mit ihm, sagte sie, könne sie über solche Themen „überhaupt nicht reden“. Er verurteile alles, was mit der Kirche zu tun hat.

    Sie erzählte also von ihrem Glauben, von einem Gefühl der Zugehörigkeit und von den Menschen aus der Gemeinde, denen sie sich nahe fühlt. Es war ein bemerkenswertes Gespräch. Bemerkenswert vor allem deshalb, weil Glaube und Religion in den Runden, in denen ich sonst bin, nie eine Rolle spielen – oder lediglich dann, wenn jemand von seinem bevorstehenden Austritt aus der Kirche berichtet. Dort aber saß eine Frau, eine Katholikin, die mit Begeisterung erzählte – einer Begeisterung, die ich nachvollziehen konnte, denn auch ich fühle mich der katholischen Kirche verbunden, irgendwie und schwer erklärbar.

    In Stuttgart treffen sich tausende Gläubige zum Katholikentag

    In den vergangenen Monaten habe ich öfter über diese Begegnung nachgedacht. Ich habe mich gefragt, warum es in meinen Freundeskreisen normaler ist, über Achtsamkeit, Meditation und Spiritualität zu sprechen, als über die Kirche? Weshalb viele Menschen, die ich kenne, bereitwillig über ihr Innenleben reden, aber nahezu niemand über seinen Glauben?

    „Persönliche Irrelevanz“ ist nach einer aktuellen Studie der häufigste Grund, warum Mitglieder den christlichen Kirchen den Rücken kehren, noch vor dem Ärger über Missbrauchsskandale und veraltete Strukturen. Ist die Kirche vielen also einfach egal geworden?

    Die Zahlen zumindest untermauern diese These. Auch wenn sich gerade tausende Gläubige beim Katholikentag in Stuttgart treffen – die Zahl der Katholiken, der Christen allgemein, schrumpft in Deutschland rasant. Kurz vor Ostern meldete die Forschungsgruppe „Weltanschauung in Deutschland“, dass mittlerweile weniger als 50 Prozent der Deutschen Mitglied der zwei großen christlichen Kirchen sind. Erstmals seit Jahrhunderten sind Christen damit in der Minderheit. Knapp unter 22 Millionen Menschen sind – so wie ich – Katholiken und Katholikinnen. Was, wollte ich für diesen Text wissen, heißt das in diesen Zeiten? Was hält Menschen in der Kirche – und was lässt sie austreten?

    Knapp unter 22 Millionen Menschen in Deutschland sind katholisch

    Ich selbst, das muss ich noch erklären, stehe irgendwo in der Mitte zwischen diesen Polen. Auch in meinem Leben spielt die Kirche keine dominierende Rolle. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal einen regulären Sonntags-Gottesdienst besucht habe, es muss mindestens 15 Jahre her sein. Das „Ave Maria“ könnte ich nicht einmal beten, wenn ich es wollte. Wirklich verwurzelt in der Kirche war ich vermutlich das letzte Mal mit neun und zehn, als ich zur Erstkommunion ging, kurz Messdienerin wurde und die Kinderbibel zu meinen Lieblingsbüchern gehörte.

    Und doch würde ich die Kirche nicht verlassen, trotz allem nicht. Natürlich bin auch ich entsetzt über den Missbrauch, die Vertuschung, den Ausschluss von Frauen, von Homosexuellen. Die beeindruckende ARD-Dokumentation „Out in Church“ kann ich mir nicht ohne Tränen in den Augen anschauen, weil mich der Starrsinn der katholischen Kirche fassungslos macht. Aber ich gehöre zu denen, die dennoch bleiben wollen, die sich verbunden fühlen, lebenslang, auch wenn es kompliziert ist.

    Ich verstehe, dass viele Menschen das nicht können, nicht wollen. „Es gibt so viele Themen, die mir wehtun“, erzählt mir eine Freundin, mit der ich über ihren Austritt spreche. Sie sei durchaus ein religiöser Mensch, ist mit der katholischen Kirche aufgewachsen, in einem Haushalt, in dem auch ab und an gebetet wurde. „Aber irgendwann konnte ich das nicht mehr trennen“, sagt sie. All die Skandale und ihre Mitgliedschaft in der Kirche. Mit uns am Tisch sitzt eine weitere Freundin. Sie ist evangelisch getauft, aber mittlerweile konfessionslos. „In vielen Momenten in meinem Leben hätte ich eine Kirche gebraucht“, erzählt sie. Doch ihr habe der Zugang gefehlt, sie habe sich nicht mit der Religion identifizieren können. „Es ist so schade, weil es einem so viel geben kann“, sinniert sie. „Jeder Mensch hat den Wunsch, sich die Welt zu erklären“ – und dabei könnte die Kirche doch eigentlich helfen.

    Rainer Maria Schießler gilt als Münchens bekanntester Pfarrer

    Meine Freundinnen haben einen ganz ähnlichen Blick auf Glaube und Religion wie Rainer Maria Schießler. Mit dem Unterschied, dass er Teil der Organisation ist, aus der sie ausgetreten sind. Schießler ist katholischer Pfarrer in München, Bestseller-Autor und Podcast-Host. Vor allem aber steht er für eine Kirche, die lebhaft und engagiert ist. Ich erreiche ihn auf dem Handy zwischen zwei Terminen. Unser Telefonat unterbricht er zwischendurch kurz, „ich musste mein Motorrad wegbringen“, ruft er fröhlich in den Hörer.

    Schießler ist schonungslos, wenn er über die katholische Kirche spricht. Er nennt sie „strukturell fehlerhaft“, und meint damit auch den Missbrauch und die Vertuschung. Doch da ist noch mehr: „Wir haben ein Personalproblem“, sagt er. „Uns gehen drei Dinge aus: Kundschaft, Personal und Kapital.“ Wie reagiert man darauf? Schießlers Antwort: „Wir müssen mutig sein, Kirche ganz neu zu denken.“ In seiner Gemeinde will er das vorleben. Er hält nicht viel von strengen Regeln und Vorgaben, segnet homosexuelle Paare und spricht sich dafür aus, dass Priester heiraten können. „Kirche ist immer ein Prozess“, sagt er. Sie dürfe nicht glauben, dass sie fertig sei, unveränderbar.

    Rainer Maria Schießler: Kirche muss Heimat sein

    Schießler schickt in seiner Gemeinde niemanden weg. „Wir müssen Menschen nicht umerziehen, sondern ihnen Halt geben“, betont er. Die Gemeinde müsse für sie zur Heimat werden.

    Teilnehmer und Teilnehmerinnen der Eröffnung des 102. Deutschen Katholikentags halten gelb-blaue Schals in den Händen.
    Teilnehmer und Teilnehmerinnen der Eröffnung des 102. Deutschen Katholikentags halten gelb-blaue Schals in den Händen. Foto: Marijan Murat, dpa

    Nach dem Gespräch mit dem Münchner Pfarrer bin ich nachdenklich. Mir geht ein Satz durch den Kopf, den ich schon oft in Zusammenhang mit Schießler gehört oder gelesen habe: So müsste Kirche überall sein. Aber ist das überhaupt möglich? Schießler sagt: Ja, alles in der Kirche hat mit den Menschen zu tun, die ihr angehören.

    Ich bin weniger optimistisch. Ohne veränderte Strukturen, ohne den flächendeckenden Willen zur Aufklärung kann es keine gute Zukunft für die katholische Kirche geben. Ich werde mich nicht abwenden. Aber auf Dauer womöglich an der Kirche verzweifeln.

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