Amerikaner wählen nicht, sie erwählen. Der Satz, dass es sich bei der nächsten Präsidentschaftswahl um die wichtigste Präsidentschaftswahl aller Zeiten handele, gehört zum Standardrepertoire politischer Rhetorik in den USA. So abgedroschen der Satz klingt, so wahr wirkt er in diesem Jahr. Noch nie haben die Vereinigten Staaten von Amerika – und der Rest der Welt – einer Abstimmung über das Weiße Haus derart entgegengefiebert. Das zeigt sich an den Millionen Menschen, die bereits ihre Stimme abgegeben haben, über 80 Millionen. Die Wahlbeteiligung (in den USA traditionell eher niedrig), dürfte nach oben schnellen. Das könnte man als „Fest der Demokratie“ feiern, eher liegt dem aber jene „negative Parteilichkeit“ zugrunde, die der US-Journalist Ezra Klein diagnostiziert: Also nicht in erster Linie Begeisterung für das eigene Lager (obwohl es das gerade bei den Anhängern von Donald Trump auch gibt), sondern intensiver Hass auf das jeweils andere Lager. Sehr viele Menschen wollen auf jeden Fall eine weitere Amtszeit von Donald Trump verhindern, sehr viele andere auf jeden Fall keinen Demokraten im Weißen Haus.
Dabei blicken beide politischen Lager pessimistisch in die Zukunft. Sieben von zehn Amerikanern glauben laut einer Umfrage, ihr Land sei auf dem falschen Kurs. Das „amerikanische Gemetzel“, das Trump in seiner Antrittsrede sofort stoppen wollte, hat nicht aufgehört. Zwar boomte die Wirtschaft zunächst, doch das kam vor allem dem Aktienmarkt zugute. Gewaltige Steuersenkungen – die auch vor allem den Topverdienern nutzten – führten nicht zu einem Boom an Investitionen und Jobs. Die soziale Spaltung hat ein Ausmaß erreicht, das Wissenschaftler Vergleiche zu der Zeit vor der Französischen Revolution ziehen lässt. Die Corona-Krise zeigt diese überdeutlich: Die Zahl der Toten ist in den USA mit über 200.000 auch so hoch, weil viele nicht versichert waren. Während sich glänzend bezahlte Programmierer der weiter florierenden Internetriesen dauerhaft ins Heimbüro verabschieden, fürchten arbeitslos gewordene Busfahrer oder Putzhilfen in San Francisco die Obdachlosigkeit. Die Lebenserwartung in den USA sinkt, auch weil in manchen Jahren mehr Menschen durch Opiate oder Schmerzmittel sterben als im gesamten Vietnamkrieg, „Tote aus Verzweiflung“ nennt man sie.
2016 hat Trump deutlich weniger Stimmen als Clinton erhalten
Die US-Infrastruktur verrottet weiter, mehrere Billionen Dollar wären nach Schätzungen nötig, um diese auf das Niveau anderer Industriestaaten zu heben. Amerikas „sanfte Kraft“, seine kulturelle globale Anziehung, hat durch Trump gelitten und leidet durch Corona weiter – seine berühmten Universitäten, sonst Sehnsuchtsort der begabtesten Studenten auf dem Planeten, müssen sich abriegeln. Hollywood, wo sonst Träume entstehen, leidet unter Drehstopps. International haben sich die USA unter Trump als Vorbild verabschiedet. Nur 16 Prozent der Bürger weltweit trauen dem US-Präsidenten gemäß einer Umfrage zu, das Richtige zu tun – weniger als dem chinesischen Präsidenten.
Die Spaltung des Landes: Die New York Times hat untersucht, woher im Land die Spenden für gigantische Wahlkampfausgaben – rund 11 Milliarden Dollar fließen in das Rennen um die Präsidentschaft sowie die Kongress-und Gouverneurswahlen – stammen. Heraus gekommen ist eine Landkarte der gespaltenen Staaten von Amerika: blaue Staaten für die Demokraten, rote für die Republikaner, wenige umkämpfte und unentschiedene „Swing States“. Diese Spaltung ist im System angelegt: Das archaische Wahlmännersystem bevorzugt etwa ländliche und dünn besiedelte Staaten, in denen Wähler eher rechts stimmen, während urbane Regionen wie New York oder Kalifornien so klar demokratisch sind, dass sie im Wahlkampf kaum eine Rolle spielen. Trump hat landesweit 2016 deutlich weniger Stimmen als Clinton erhalten, im Senat vertreten die Republikaner trotz ihrer Mehrheit insgesamt eine Minderheit der US-Bürger – aber sie regieren nicht nur, sie konnten auch den Obersten Gerichtshof durch drei neue Richter dauerhaft nach rechts rücken. Im Kongress wurden die Wahlkreise systematisch von beiden Seiten derart parteiisch gezogen, sodass „Kompromiss“ in Washington ein schmutziges Wort geworden ist. Jeder kompromissbereite Abgeordnete muss nämlich fürchten, von deutlich radikaleren Parteifreunde im Wahlkreis daheim herausgefordert zu werden. Amerikas Linke sind weit linker geworden, Amerikas Rechte weit rechter.
Eine Auswahl der Wahlversprechen von Donald Trump:
In den ersten zehn Monaten sollen zehn Millionen neue Jobs geschaffen werden
Steuern sollen sinken
Bis Ende des Jahres soll ein Impfstoff gegen das Coronavirus entwickelt werden
Wichtige Medikamente sollen künftig in den USA hergestellt werden
Eine Million Fertigungsjobs aus China sollen zurück in die USA geholt werden
Unternehmen, die Arbeitsplätze nach China auslagern, sollen keine Aufträge der Bundesregierung mehr bekommen
China soll für die Ausbreitung des Coronavirus zur Verantwortung gezogen werden
Medikamentenpreise sollen gesenkt werden
Die Amtszeiten im Kongress - dem aus Repräsentantenhaus und Senat bestehenden US-Parlament - sollen begrenzt werden
Bürokratie soll abgebaut werden
Illegal eingereisten Migranten soll der Zugang zu Sozialleistungen verwehrt werden
Angehörige krimineller Banden sollen verpflichtend ausgewiesen werden
Auf dem Mond soll eine permanente US-Präsenz geschaffen und die erste bemannte Mission zum Mars geschickt werden
Die Infrastruktur soll zur weltbesten ausgebaut werden
Die "endlosen Kriege" der USA sollen beendet und die US-Soldaten nach Hause geholt werden
Verbündete sollen ihren "fairen Anteil" an Verteidigungsausgaben bezahlen. (dpa)
Donald Trump hat sich schon vor der letzten US-Wahl niemals verstellt
Parteiische Medien fördern diese Tendenz. Eine gewaltige Mehrheit der Zuschauer von Trumps rechtem Haussender Fox News stützt etwa dessen Forderung, eine Mauer an der Grenze zu Mexiko zu bauen, nur eine Minderheit der Gesamtbevölkerung, aber Fox News – genau wie soziale Medien – befeuert täglich die Abstiegsangst gerade weißer Wähler, die sich wiederum aus Zahlen befeuert: Schon in 15 Jahren werden diese nicht mehr die Mehrheit im Land stellen.
Warum Donald Trump? Man kann Donald Trump vieles vorwerfen, aber eines nicht: Dass er sich verstellt hätte. Schon vor der Wahl 2016 war er ausfällig, sexistisch, unverschämt, sogar gegenüber seiner eigenen Partei. Die hatte ihn lange verlacht, genau wie die Medien, die ihn zunächst in der Spalte „Unterhaltung“ führten. Doch Trump begriff sehr ernsthaft, wie ernst es seinen treuesten Anhängern mit zwei Gefühlen ist: der Sehnsucht nach Respekt und schiere Wut. Beide Gefühle hatten die Basis der Republikaner schon vor ihm erreicht, sie führten zu Auswüchsen wie der Tea-Party-Bewegung und Kuriositäten wie der einstigen Vizepräsidentschaftskandidatin Sarah Palin, einer Art Wegbereiterin für Trump. Dieser bediente die Sehnsucht, „es denen da oben zu zeigen“, so entschlossen wie niemand zuvor. Dabei halfen ihm Netzwerke wie Facebook, dessen Algorithmen genau diese Emotionen belohnen. Trump hat nach Einschätzung von Facebook-Mitarbeitern 2016 die wohl beste Kampagne aller Zeiten in den sozialen Netzwerken geführt. Bis heute gelingt dem Milliardär, als Außenseiter zu erscheinen, auch wenn er konsequent Wirtschaftspolitik für Reiche macht. Erst Trump hat aufgezeigt, wie tief der Zorn über Auswüchse der Globalisierung oder den Aufstieg Chinas ist. Er ist aber nicht Auslöser, sondern Kulmination dieses Zorns. Irgendeine Form von Trumpismus hätte es in den USA auch ohne Trump gegeben.
Warum Joe Biden? Umgekehrt gilt: Den Präsidentschaftskandidaten – und möglichen 46. Präsidenten der USA – Joe Biden hätte es ohne Trump wohl nicht gegeben. Das Erstaunen vieler, warum die Demokraten niemand anderen fanden als „Sleepy Joe“, wie Trump den 77 Jahre alten Demokraten nennt, ist berechtigt. Bidens frühere Präsidentschaftskandidaturen endeten peinlich (Plagiatsvorwürfe) oder chancenlos. Als Ewig-Senator war er so langatmig, dass Barack Obama als Jungsenator während einer besonders ermüdenden Biden-Rede auf einem Zettel notierte: „Erschießt. Mich. Jetzt!“ Vizepräsident wurde er dann nur, da der unerfahrene Obama einen erfahrenen Washington-Kenner an seiner Seite präsentieren wollte – wirkte aber so wenig inspirierend, dass Obama ihm sogar eine Präsidentschaftskandidatur im Jahr 2016 ausredete, mit der Begründung, man solle nie unterschätzen, wie sehr Biden es „vermasseln“ könne. Er kam dieses Jahr zum Zug, weil die Demokraten Angst ergriff, jeder allzu polarisierende Kandidat – wie etwa Bernie Sanders – werde von Trump öffentlich so zerfetzt werden wie zuvor Clinton. Die Corona-Krise hilft Biden nun. Er kann Empathie und Bodenständigkeit zeigen. Vor allem aber absolviert er wenig öffentliche Termine und lässt Trump reden, statt selbst zu viel zu reden. Dass Biden nur als Übergangspräsident gilt, ist gerade eher ein Vorteil. Viele Amerikaner sehnen sich schlicht nach Normalität, nicht nach radikalem Umbau.
Wird unter Biden für uns Deutsche wieder alles gut?
Wenn beide Kandidaten solche Schwächen zeigen, ist der Wahlausgang dann eigentlich egal? Nein. Es stellt sich ernsthaft die Frage, ob das Land und die Welt vier weitere Jahre mit Trump aushalten – ob Klimakooperation oder Post-Corona-Wiederaufbau, kein Zukunftsprojekt wäre mit ihm denkbar. Auch Trumps Vorgänger Obama hatte sich eher auf die Heimat als auf die Welt konzentriert, aber Trump sieht selbst Verbündete als Feinde. Nie hat er auch nur einen Versuch unternommen, Präsident aller Amerikaner zu sein statt nur seiner Fans. Biden würde wohl nicht in allen Politikbereichen dramatisch andere Akzente setzen. Aber der Stilwechsel wäre dramatisch – schon allein, wenn Bidens Wahl friedlich über die Bühne ginge. Rund die Hälfte der Amerikaner zweifeln mittlerweile, dass Wahlen noch zuverlässig fair verlaufen.
Würde unter einem Präsidenten Biden für uns Deutsche wieder alles gut? Auch hier gilt: Selbst wenn Donald Turm immer ein zweitklassiger TV-Star geblieben wäre, hätte es im deutsch-amerikanischen Verhältnis weiter geknirscht. Angela Merkel und Barack Obama verabschiedeten sich tränenreich, doch auf Arbeitsebene hakte es oft. Der Frust über Deutschlands geringe Militärausgaben, Amerikas Schwenk gen Asien waren damals schon strittig – und würden es unter Biden bleiben, zumal die Republikaner nicht komplett mit Trumps Erbe brechen werden. Dieser könnte zudem nach einer Niederlage in vier Jahren erneut antreten. Aber: Biden kennt Europa und Deutschland sehr gut, seine Berater auch – während es der Bundesregierung bis heute nicht gelungen ist, irgendeinen Draht in Trumps Umfeld aufzubauen. Deutschland gilt ihm als wichtiger Partner, etwa wenn es um den grünen Umbau der Wirtschaft geht.
Daher ist die Nervosität in Berlin auch so groß. „Niemand erwartet den Himmel, wenn Biden kommt. Aber jeder erwartet die Hölle, wenn Trump bleibt“, sagt ein hochrangiger deutscher Diplomat. Deswegen ist der 3. November eben doch: die wichtigste Wahl aller Zeiten.
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