Weiße Zelte des türkischen Katastrophenschutzamtes Afad reihen sich in einem Lager in der Stadt Pazarcik aneinander. Vor einigen liegt Brennholz, bei anderen sind die Planen am Eingang mit Steinen beschwert, damit sie im kalten Wind nicht flattern. Ein türkischer Beamter führt Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (Grüne) und Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) am Dienstagnachmittag herum. Es wird dabei vor allem eines deutlich: Die Türkei wird noch lange Hilfe brauchen – zumal die Erde immer noch bebt.
Der türkische Südosten war erst am Vorabend der Ministerinnen-Reise erneut von zwei schweren Erdstößen erschüttert worden. Dabei kamen nach Regierungsangaben sechs Menschen ums Leben, fast 300 wurden verletzt. Tausende stürzten panisch aus ihren Häusern. Vor gut zwei Wochen waren die ersten verheerenden Beben – seitdem ist die Zahl der Toten in der Türkei auf mehr als 41.000 gestiegen, weitere 6000 starben im benachbarten Syrien. Und: Hunderttausende verloren ihr Dach über dem Kopf. Afad hat über 300.000 Zelte aufbauen lassen. In Pazarcik, dem Epizentrum des ersten Bebens Anfang Februar, stehen einige davon.
Nach Treffen mit Erdbebenopfern sind die Ministerinnen bei einer improvisierten Pressekonferenz sichtlich bewegt
Baerbock und Faeser landeten am Flughafen der Stadt Gaziantep nahe der syrischen Grenze, wo viele Hilfslieferungen aus Deutschland ankommen, und übergaben eine Ladung des Technischen Hilfswerkes. Nach Treffen mit Erdbebenopfern zeigten sich die Ministerinnen bei einer improvisierten Pressekonferenz vor einem zerstörten Gebäude erschüttert.
Die Dimension des Unglücks lasse sich kaum in Worte fassen, sagte Baerbock. „Man spürt an jedem Ort, wie das Beben noch in den Menschen drinsteckt.“ Sie habe mit einem 16-jährigen Jungen geredet, der beim ersten Beben in den frühen Morgenstunden des 6. Februar seinen kleinen Bruder aus dem Haus gerettet und dann mit ihm zwei Tage im Schlafanzug verbracht habe, sagte sie. Das, was sie bei dem Besuch erlebt habe, habe „einem das Herz zerrissen“, ergänzte Faeser.
Baerbock betonte mehrfach, dass es angesichts der gewaltigen Zerstörungen mit Nothilfe nicht getan sei. „Die Hilfe wird lange andauern müssen“, stellte sie fest und gab die Bereitstellung weiterer 50 Millionen Euro bekannt: 33 Millionen Euro für die Türkei, 17 Millionen Euro für Syrien. Damit hat die Bundesregierung etwa rund 60 Millionen Euro an Hilfen für die Türkei und rund 50 Millionen Euro für Syrien zugesagt. Zur Unterstützung gehören bisher etwa 350 Tonnen an Hilfsgütern wie Feldbetten, Zelte und Schlafsäcke.
Die türkische Regierung ist nach Auffassung von Experten dabei, Fehler zu wiederholen
Deutschland steht mit solchen Summen nicht allein: Die USA haben 185 Millionen Dollar für die zwei betroffenen Länder bereit gestellt, die Vereinigten Arabischen Emirate versprachen je 50 Millionen Dollar. Die Schäden allein im türkischen Erdbebengebiet belaufen sich nach Schätzungen des Wirtschaftsverbandes Türkonfed auf 84 Milliarden Dollar.
Die türkische Regierung ist nach Auffassung von Experten jedoch dabei, Fehler zu wiederholen. Sie will ab nächster Woche bereits mit dem Bau von 200.000 Häusern beginnen. Erdbebensicher werden diese mutmaßlich kaum sein. Mit dem raschen Wiederaufbau will der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan der Kritik an der schlecht koordinierten und mancherorts langsamen Reaktion des Staates auf die Naturkatastrophe begegnen, vor allem mit Blick auf die bis Juni anstehenden Wahlen.
Bei ihrem Besuch im Erdbebengebiet trafen Baerbock und Faeser auch das Einsatzteam der Kaufbeurer Hilfsorganisation Humedica. Das siebenköpfige Team ist seit mehr als einer Woche vor Ort, in einem Not-Lager nördlich von Gaziantep. „Wir führen kleine chirurgische Eingriffe durch, kümmern uns um die Versorgung von Wunden oder chronisch kranke Menschen“, sagte Teamleiterin Nora Parasie am Dienstag. Viel wichtiger als die rein medizinische Versorgung sei es jedoch, so Parasie, den Menschen zuzuhören. „Die meisten Menschen, die wir behandeln, haben alles verloren, ihr Zuhause, Angehörige, ihre ganze Existenz.“ (mit wida)