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Entwicklungspolitik: Mehr Hunger, mehr Armut, weniger Bildung

Entwicklungspolitik

Mehr Hunger, mehr Armut, weniger Bildung

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    Ein Blick in das Flüchtlingslager Rafah. Entwicklungshilfe soll Menschenleben retten – aber auch politische Ziele erfüllen.
    Ein Blick in das Flüchtlingslager Rafah. Entwicklungshilfe soll Menschenleben retten – aber auch politische Ziele erfüllen. Foto: Abed Rahim Khatib, dpa

    Es ist erst ein paar Wochen her, dass Thorsten Schäfer-Gümbel unterwegs war in Afrika. Der 53-Jährige ist Vorstandssprecher der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ), dem Unternehmen, das sich im Auftrag der Bundesregierung um Entwicklungshilfeprojekte auf der ganzen Welt kümmert. Äthiopien war sein Ziel, ein Land, in dem die Probleme des Kontinents wie unter einem Brennglas erkennbar sind: Die Bevölkerungszahl steigt und steigt, ein Bürgerkrieg kostet zehntausende Menschenleben, eine anhaltende Dürre hat Hunderttausende in die Flucht getrieben. Äthiopien ist einer der am wenigsten entwickelten Staaten der Welt, auf dem Index der menschlichen Entwicklung nimmt er Rang 175 ein – von 191 gelisteten Staaten. Mehr als 28 Millionen Menschen sind auf humanitäre Hilfe angewiesen.

    Dabei galt der ostafrikanische Hungerleider einst als Hoffnungsträger. Die Volkswirtschaft wuchs, die Kindersterblichkeit ging zurück, die Zahl der Schulen stieg. Doch die Erfolge waren fragil. Heute reiht sich Äthiopien ein in eine ganze Schar von Ländern, in denen sich sicher geglaubte Fortschritte in Luft auflösen. Die Corona-Pandemie, der Ukraine-Krieg, innerstaatliche Konflikte: Es ist ein ganzer Berg an Problemen, die dazu beitragen, dass die Nachhaltigkeitsziele, die sich die Weltgemeinschaft gegeben hat, kaum mehr zu schaffen sind. „Agenda 2030“ lautete das Schlagwort, es beinhaltete Frieden, weniger Ungleichheit, keinen Hunger. Stattdessen wächst die Zahl der Hungernden, wächst die Zahl der Armen, sinkt die Zahl der Kinder mit Zugang zu Bildung. „Die Industrieländer sind hier in einer klaren Mitverantwortung, Entwicklung weltweit voranzutreiben, die klimagerechte Jobs schafft und soziale Sicherung stärkt“, sagt Schäfer-Gümbel. „Frieden braucht Entwicklung, das sollten wir nicht vergessen.“ 

    Finanzielle Mittel für Entwicklungshilfe werden gekürzt

    Doch mit der internationalen Verantwortung ist das so eine Sache in Zeiten knapper werdender Kassen auch in den reichen Staaten. Noch während die GIZ in dieser Woche ihre Jahresstatistik vorstellt, wird nur ein paar hundert Meter weiter im Bundestag der Haushalt 2024 verabschiedet. Dem Bundesentwicklungsministerium muss im kommenden Jahr mit 600 Millionen Euro weniger auskommen, das Auswärtige Amt sogar mit 1,3 Milliarden Euro weniger. Bei Entwicklungshelfern – egal ob sie staatlich organisiert sind wie die GIZ oder unabhängig wie die Welthungerhilfe – wächst die Sorge, dass Entwicklungshilfe als „kann“ und nicht mehr als „muss“ angesehen wird. Dass mehr in Panzer und weniger in Brunnen investiert wird. „Aus dem Bundesfinanzministerium heißt es, der Bundeshaushalt müsse zur Normalität zurückkehren – die Krise ist aber für viele Menschen auf der Welt noch lange nicht vorbei“, ärgert sich die Welthungerhilfe.

    Aber ist vielleicht auch die Entwicklungshilfe angesichts der steigenden Zahl an Krisen trotz gigantischen Budgets an ihre Grenzen geraten? „Die weltweite Entwicklungspolitik ist in einer Krise“, sagt Jochen Flasbarth, Staatssekretär im Bundesentwicklungsministerium (BMZ) mit Blick auf die weltweite Entwicklung. „Es gibt keinen Grund, zufrieden zu sein.“ Allein 2022 hat sich im Vergleich zum Vorjahr die Zahl der weltweit hungernden Menschen von 811 auf bis zu 828 Millionen erhöht.

    Wie erfolgreich ist Entwicklungshilfe?

    „Natürlich haben Corona-Pandemie, Kriege und Klimawandel zu Entwicklungsrückschritten auf der ganzen Welt geführt“, sagt Flasbarth. „Aber wenn wir die globalen Herausforderungen bewältigen wollen, gibt es keine vernünftige Alternative zur Entwicklungszusammenarbeit.“ Deutschland wolle künftig Regierungen, mit denen es Ziele und Werte teile, stärker bei Gesetzesreformen unterstützen, also Strukturen verändern, anstatt nur einzelne Projekte durchzuführen. „Denn mit Reformen für Frauenrechte, mehr soziale Gerechtigkeit oder Klimaschutz erreichen wir ganze Gesellschaften und erzielen so größere Wirkung“, sagt der Staatssekretär. „Und wir treiben die Reform der Weltbank voran, damit sie neben der Bekämpfung von Hunger und Armut zugleich auch mehr Mittel für den Schutz von Klima und Natur mobilisiert.“

    Reicht das? Immerhin ist die Debatte über Sinn und Unsinn von Entwicklungshilfe nicht neu. Axel Dreher beschäftigt sich an der Universität Heidelberg mit internationaler Wirtschafts- und Entwicklungspolitik. Einfache Antworten, so viel macht er schnell klar, gibt es auf diesem Feld nicht. Entwicklungshilfe, mahnt er, könne nicht nur danach beurteilt werden, wozu sie auf den ersten Blick dient, nämlich zur Verbesserung der Lebensverhältnisse von Menschen weltweit. Die Zahl der Hungernden sei keineswegs der einzige Gradmesser für den Erfolg. Entwicklungshilfe habe meist auch eine politische Komponente – etwa wenn es um Flüchtlingspolitik gehe, um Terrorbekämpfung, um die Teilhabe von Frauen oder auch um die Erschließung von Märkten. Entwicklungsgelder sind damit ein Instrument der „soft power“, also der „sanften“ Beeinflussung politischer Akteure. Aktuell beobachten lässt sich das gut am Beispiel Tunesien. Viele Milliarden Entwicklungshilfe fließen seit Jahren nach Tunis – auch in der Hoffnung, dass sich das Land auf einen Deal einlässt, Flüchtlinge zurückzunehmen, die nach Europa kommen. Die EU hat jüngst angekündigt, die Mittel für Tunesien noch einmal zu erhöhen. 

    Terrorbekämpfung, Flüchtlingsdeals – Entwicklungshilfe hat viele Ziele

    „Die Hauptziele sind oft andere, als man es auf den ersten Blick meinen würde“, sagt Dreher. „Deshalb muss man die Frage nach dem Erfolg von Entwicklungshilfe auch anders bewerten.“ Ob die Gelder wirklich die Lebensbedingungen der Menschen nachhaltig verändern, sei auch unter Experten sehr umstritten. Die Effekte, die Armut, Hunger und Lebensqualität begünstigen oder bekämpfen, ließen sich gar nicht immer klar voneinander abtrennen. „Es gibt bei Experten zwei Lager: Es gibt die, die sagen, Entwicklungshilfe hilft nicht, und es gibt die, die sagen, sie hilft – aber nur wenig“, erklärt Dreher. Was man sicher nicht dürfe, sei, davon auszugehen, dass man mit dem Geld, das man gibt, Welten bewegen könne. Das sei den Gebern aber durchaus bewusst. 

    Und doch rät Dreher, in manchen Ländern die Hilfe durchaus auch auf den Prüfstand zu stellen. Gerade bei Ländern wie Nordkorea, das humanitäre Hilfe unter anderem aus den USA und der EU bezieht, sei es fast unmöglich, gesellschaftlichen Wandel zu unterstützen. Stattdessen würde das Regime gestärkt. „In vielen Ländern richtet das mehr Schaden an, als es nutzt“, sagt der Experte. Aber auch bei anderen Empfängerländern stelle sich die Frage nach dem Sinn: Indien sei ein Land, das eigentlich reich genug sei, um seine Armen zu unterstützen. China sei ein Systemrivale. „Aber in beiden Ländern gibt es Menschen, die hungern“, sagt Dreher. Überhaupt stecke die Politik oft in einem Dilemma. Vergleichen könne man das mit dem Umgang mit den Flüchtlingen, die versuchen, über das Mittelmeer nach Europa zu kommen. „Ich bin mir sicher, dass durch den Einsatz von Rettungsbooten auf dem Mittelmeer langfristig mehr Menschen sterben als gerettet werden“, sagt er. Denn die Zahl der Flüchtlinge werde damit erhöht. „Trotzdem würde niemand auf die Idee kommen, neben ein Flüchtlingsboot zu paddeln und sagen: Ich lass dich jetzt ertrinken, weil ich damit am Ende mehr Menschen rette.“

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