Deutschland hat vergangenes Jahr nach dem Abschalten der letzten Atomkraftwerke erstmals ein Milliardendefizit im Stromhandel mit den Nachbarländern eingefahren. Der Stromhandel über Staatsgrenzen hinweg ist seit Jahrzehnten gängige Praxis, doch bislang verbuchte Deutschland finanziell stets Überschüsse – zuletzt im Schnitt eineinhalb Milliarden Euro pro Jahr. Laut Berechnungen des Branchendiensts Stromdaten.info importierten deutsche Versorger ausländischen Strom zum Preis von 5,75 Milliarden Euro. Dem standen Exporte deutscher Erzeuger in Höhe von nur 3,47 Milliarden Euro in Nachbarländer gegenüber, sodass insgesamt ein Minus von 2,28 Milliarden Euro auflief.
Seit AKW-Aus stehen in der Stromhandelsbilanz rote Zahlen
In der Bilanz fällt auf, dass die Verluste seit der Abschaltung der letzten drei Atomkraftwerke Isar 2, Neckarwestheim und Emsland zwischen April und Dezember aufliefen. Insgesamt machten die Stromimporte mit rund 54 Terawattstunden elf Prozent des deutschen Gesamtverbrauchs aus. Allerdings flossen zugleich 42 Terawattstunden aus deutschen Anlagen ins Ausland. Der meiste Strom wurde aus Dänemark, Frankreich und den Niederlanden importiert.
Frankreich war zugleich größter Abnehmer deutschen Stroms, sodass die Mengenbilanz fast ausgeglichen war. Für Importe zahlten Versorger aber im Schnitt 43 Prozent höhere Preise im Vergleich zu den Exporterlösen. Als ein Grund dafür gilt, dass Strom aus erneuerbaren Energien bei günstigen Zeiten und Wetterlagen oft billig ins Ausland verkauft wird.
Experte: Verbraucher profitieren grundsätzlich von Stromimporten
Der Energieexperte des Münchner Ifo-Wirtschaftsforschungsinstituts, Mathias Mier, betont, dass die hohen Stromimporte für die deutschen Verbraucher kein Nachteil seien. „Stromhandel passiert nur, wenn dies beiden Ländern etwas bringt“, erklärt der Experte. „Ist beispielsweise der Strompreis in Frankreich niedriger als der in Deutschland, dann würde Strom von Frankreich nach Deutschland exportiert werden. Davon profitieren die französischen Stromerzeuger und gleichzeitig die Konsumenten in Deutschland, weil dies den deutschen Strompreis senkt.“ Auf deutscher Seite würden dann teure Kraftwerke gar nicht anlaufen. „Ergo ist jede importierte Einheit Strom erst mal gut für den deutschen Konsumenten“, betont Mier. Für die Stromproduzenten hingegen drückten weniger Erzeugung und der Wettbewerb aus dem Ausland auf die Profite. Hohe Stromimportkosten seien deshalb für sich genommen nichts Schlechtes, erklärt der Ifo-Experte.
Atomausstieg wirkt sich kurzfristig negativ auf Strompreise aus
Auch die Kosten des Atomausstiegs ließen sich nicht einfach aus der Bilanz ablesen, da der Stromhandel von vielen komplexen Faktoren abhänge. Dazu zählten auch die Wetterbedingungen in ganz Europa, etwa wenn sich wie 2022 Dürre auf die Leistung von Wasserkraft- und Atomkraftwerken auswirke. „Ich würde aktuell dabei bleiben, dass die Strompreise mit den Atomkraftwerken 2023 etwas geringer gewesen wären“, sagt Mier. Den Rahmen beziffert er auf bis zu zehn Prozent.
Wirtschaftlich sei deshalb die Frage zwar berechtigt, warum man die letzten AKW-Laufzeiten nicht etwas verlängert habe. Gesellschaftspolitisch halte er jedoch das Festhalten am Ausstiegskompromiss für richtig, betont der Ifo-Experte. Denn in Summe hätten sich Atomkraftwerke mit hohen Kosten für Investitionen, Rückbau und künftigen Lagerkosten für Atommüll nicht gelohnt. „Daher ist das Kapitel endgültig beendet in Deutschland und sollte, wirtschaftlich gesehen, auch nie wieder aufgemacht werden“, sagt Mier. Die gute Nachricht für die Verbraucher sei, dass Strom durch den starken Ausbau der erneuerbaren Energien auf absehbare Zeit billiger werde. „Die Strompreise werden stark fallen“, sagt der Ifo-Experte voraus.