Mit umfangreichen und milliardenschweren Entlastungen für die Menschen in Deutschland reagiert die Ampel-Koalition auf die stark gestiegenen Energie- und Spritpreise.
Geplant sind außerdem Schritte, um den Verbrauch fossiler Energien zu senken und von russischem Gas wegzukommen. Die Spitzen von SPD, Grünen und FDP verhandelten die Nacht zum Donnerstag mehr als zehn Stunden lang durch. Kanzler Olaf Scholz (SPD) verpasste das Familienfoto beim Brüsseler Nato-Gipfel, aber am Morgen stand die Einigung: Zum zweiten Mal innerhalb weniger Wochen schnürt die Regierung ein milliardenschweres Paket, das den Menschen finanziell durch die Krise helfen soll.
Die Koalition war zuvor zunehmend unter Druck geraten: Der völkerrechtswidrige Angriff Russlands auf die Ukraine habe die ohnehin angespannte Lage auf den Energiemärkten drastisch verschärft, heißt es im Beschlusspapier, das die Parteichefs am Vormittag präsentierten. Die stark steigenden Kosten für Strom, Lebensmittel, Heizung und Mobilität seien für viele zu einer großen Belastung geworden. Worauf sich die Koalitionsspitzen deshalb geeinigt haben:
Energiepauschale und Klimageld
Jeder einkommensteuerpflichtige Erwerbstätige, der in den Steuerklassen 1-5 einsortiert ist, soll eine Pauschale von einmalig 300 Euro brutto bekommen. Das Geld wird vom Arbeitgeber als Zuschuss zum Gehalt ausgezahlt, bei Selbstständigen wird stattdessen die Steuer-Vorauszahlung gesenkt. Die Pauschale unterliegt der Einkommensteuer. Wer einen hohen Steuersatz hat, bekommt am Ende also entsprechend weniger raus - wer unter dem Grundfreibetrag bleibt, profitiert von der vollen Summe. So werde die Mitte der Gesellschaft schnell, unbürokratisch und sozial gerecht entlastet, heißt es im Ampel-Papier. Wenn auch Rentner oder Menschen mit einem steuerfreien Minijob profitieren sollen, müsste die Ampel das aber noch klären. Der Paritätische Wohlfahrtsverband beklagte hier in der "Rheinischen Post" eine "soziale Schieflage".
SPD, Grüne und FDP wollen außerdem Tempo machen bei der Einführung des im Koalitionsvertrag geplanten Klimagelds. "Möglichst" noch in diesem Jahr soll ein Auszahlungsweg über die Steuer-ID entwickelt werden. Mit dem Geld sollen staatliche Einnahmen aus dem CO2-Preis im Verkehrs- sowie Wärmebereich an die Bürger zurückgegeben werden. Der Preis steigt in den kommenden Jahren stetig an, damit steigen die Benzin- und Dieselpreise sowie Kosten fürs Heizen mit fossilen Energieträgern. Der genaue Auszahlungsweg ist aber komplex.
Günstiger Auto, Bus und Bahn fahren
Die Ampel-Koalition will für günstigere Spritpreise sorgen, indem sie die Energiesteuer auf Kraftstoffe befristet für drei Monate auf das europäische Mindestmaß absenkt. Das mache bei Benzin 30 Cent und bei Diesel 14 Cent pro Liter aus, rechnete Finanzminister Christian Lindner (FDP) vor. Die Regierung wolle auch ein Auge darauf haben, dass die Absenkung tatsächlich an die Verbraucher weitergegeben werde. Ein Tankrabatt, wie von Lindner zunächst vorgeschlagen, kommt dagegen genauso wenig wie ein generelles Tempolimit.
Überraschend entschied sich die Koalition auch, Tickets für Busse und Bahnen günstiger zu machen. Für 90 Tage soll bundesweit ein Ticket für 9 Euro pro Monat im Öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) angeboten werden. Der Bund will den Ländern das Geld dafür zur Verfügung stellen. "Wir machen Bus- und Bahnfahren so billig, wie es in Deutschland wahrscheinlich noch nie war", sagte Grünen-Chefin Ricarda Lang. Wie das Ticket genau funktionieren soll und wann es kommt, ist aber offen - ebenso die Frage, wie man mit Inhabern von Monats- oder Jahreskarten umgeht.
Möglichst früherer Abschied von der Gasheizung
Ab dem Jahr 2024 sollen möglichst nur noch Heizungen neu eingebaut werden, die zu 65 Prozent mit erneuerbaren Energien betrieben werden - im Koalitionsvertrag war das bisher zum 1. Januar 2025 vorgesehen. Der Einbau von Gasheizungen wäre damit im Regelfall nicht mehr möglich. Es soll zudem der Rahmen dafür geschaffen werden, dass Eigentümerinnen und Eigentümer von Immobilien ihre über 20 Jahre alten Heizungsanlagen austauschen können. Außerdem soll eine große Wärmepumpen-Offensive mit staatlicher Förderung gestartet werden.
Ab 2023 soll im Wohnungsbau zudem der Effizienzstandard EH55 gelten. Energieeffizienz sei wichtig, um unabhängig zu werden vom russischen Präsidenten Wladimir Putin, sagte Lang. Verbraucherschützer begrüßten den Schritt im Grundsatz. Es sei aber "ärgerlich", dass die Bundesregierung die Höhe der Unterstützung "völlig offengelassen" habe, hieß es vom Verbraucherzentrale Bundesverband.
Einmalzahlungen für Familien und Sozialleistungsbezieher
Um Familien zu unterstützen, will die Koalition ergänzend zum Kindergeld pro Kind einmalig 100 Euro über die Familienkassen auszahlen. Der Bonus wird auf den Kinderfreibetrag angerechnet, kommt also stärker bei Familien mit wenig Geld an. Wer Sozialleistungen bezieht soll zusätzlich zum bereits zuvor beschlossenen 100-Euro-Zuschuss eine weitere Einmalzahlung von 100 Euro bekommen. Ab Januar müssten dann die Regelbedarfe angesichts der Preissteigerungen angemessen erhöht werden. Verbraucherschützer kritisierten, ausgerechnet für die Menschen, die finanziell ohnehin nur schwer über die Runden kämen, reichten die Hilfen nicht aus.
Kosten für den Staat
Das Paket wird den Staat mehrere Milliarden Euro kosten - eine genaue Summe konnte Lindner am Donnerstag noch nicht nennen. Das hänge auch davon ab, wie viel zu den günstigeren Preisen getankt werde und wie viele Bürger die günstigeren Bahntickets kauften. Er gehe aber davon aus, dass die Größenordnung mit dem ersten Entlastungspaket vergleichbar sei. Im Februar hatte die Koalition ein Paket mit Abschaffung der EEG-Umlage, höherer Pendlerpauschale, Steuersenkungen und ersten Sofortzuschlägen geschnürt. Volumen: 16 Milliarden Euro.
Die neuen Entlastungen will Lindner über einen Ergänzungshaushalt finanzieren, den er vor dem Sommmer ins Parlament einbringen will. Dann könnten auch Wirtschaftshilfen für Unternehmen dazukommen, die durch den Krieg in der Ukraine belastet seien, deutete der Finanzminister an. Die EU hat einen Beihilferahmen für Firmen beschlossen, der umfassende Hilfen ermöglicht.
Mehr Rechte fürs Kartellamt bei Preissprüngen
Nach der Preisexplosion beim Sprit nimmt das Bundeskartellamt die Preise an Tankstellen näher unter die Lupe. Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) hatte von "Kriegsgewinnen" und einer problematischen Machtposition der großen Tankstellenketten gesprochen. Nun will die Regierung alle Möglichkeiten prüfen, durch kartell- und wettbewerbsrechtliche Maßnahmen sicherzustellen, dass die Märkte funktionieren und sinkende Rohstoffpreise auch rascher als bislang an die Endverbraucher weitergegeben werden. Das Kartellamt soll in einem ersten Schritt Zugang zu mehr Daten bekommen.
© dpa-infocom, dpa:220324-99-649007/18 (Von Andreas Hoenig, Theresa Münch und Martina Herzog, dpa)