Nicht nur am Stammtisch oder Kneipentresen gibt es diesen Typ Mensch, der auf Knopfdruck zu praktisch allem eine scheinbar klare Ansage raushauen kann. Der allein schon mit selbstsicherem Auftritt Zustimmung heischt, die anderen nah heranrücken lässt. Mal Sachen sagt, die viele sich gar nicht trauen würden. Auch in der Politik gibt es solche Leute, nicht dass sie notwendigerweise erfolgreicher wären, als die mit den leisen Tönen, die vielleicht sogar eher mal Kanzlerin oder Kanzler werden. Doch wenn die Redaktionen von Talkshows für muntere Streitgespräche sorgen wollen, wählen sie regelmäßig die gleichen Telefonnummern. Die der Lauten.
FDP-Politiker ist Talkshow-Dauergast mit Aufreger-Garantie
Besonders oft rufen sie bei FDP-Urgestein Wolfgang Kubicki an, der Jurist von Beruf ist und selbst einmal nebenher eine Kneipe betrieben hat. Das Thema ist da fast egal. Und der sagt fast immer ja, liefert dem Fernsehpublikum zuverlässig die zugespitzten Sätze, die gar nicht zu seiner gediegen-staatstragenden Rolle als Bundestagsvizepräsident passen wollen. Besonders hart ins Gericht geht der Anwalt in den vergangenen gut zweieinhalb Jahren mit der Corona-Politik der Bundesregierung, die er im Großen und Ganzen als übergriffig empfindet. Dass seine Partei inzwischen selbst zusammen mit SPD und Grünen regiert, tut da wenig zur Sache.
Der 70-Jährige erhebt ein paar krasse Forderungen oder kritisiert etwas scharf, die Erregungsspirale dreht sich hektisch, fast nichts davon wird offizielle Linie seiner Partei oder gar als Regierungsbeschluss umgesetzt. FDP-Chef Christian Lindner lässt seinen umtriebigen Vize gewähren, manchmal augenrollend, als meine er, 'so ist er eben, der Wolfgang'. Gerade aber strapaziert Kubicki die Geduld seiner Parteifreunde so heftig wie selten zuvor. Seit der Jurist aus Kiel über das Redaktionsnetzwerk forderte, die Ostsee-Pipeline Nord Stream 2 in Betrieb zu nehmen, rollt eine Welle der Empörung, versuchen führende Liberale hektisch, die Debatte abzumoderieren.
Lindner findet Kubickis Position "falsch und abwegig"
Eine Öffnung, so der Tenor Kubickis, würde Russland die Argumente nehmen, seine Gaslieferung durch die Pipeline Nord Stream 1 zu drosseln. Dadurch könnte sich die Gefahr verringern, dass Deutschland im kommenden Winter die Gasreserven ausgehen. Sobald Deutschland genügend andere Energiequellen aufgetan habe, könne die Pipeline ja wieder geschlossen werden. Doch die Gasröhre, die Kubicki öffnen möchte, verkörpert die ganze unselige Abhängigkeit Deutschlands von russischer Energie.
Kurz bevor Russland seinen Angriffskrieg auf das Nachbarland Ukraine begann, hatte Bundeskanzler Olaf Scholz das Genehmigungsverfahren für die umstrittene Leitung gestoppt, die in seiner Partei die glühendsten Befürworter hatte. Kubickis Vorstoß mag die Widersprüchlichkeit der deutschen Haltung zu Russland aufzeigen, doch sie kommt in der Ampel-Koalition einem Tabubruch gleich.
Ob FDP-Fraktionschef Christian Dürr, Parteivize Johannes Vogel, Außenpolitiker Alexander Graf Lambsdorff oder Verteidigungsspezialistin Marie-Agnes Strack-Zimmermann - alle widersprachen Kubicki vehement. Sie verweisen etwa darauf, dass Deutschland mit einer Öffnung von Nord Stream 2 seine Partner in Europa und Amerika völlig vor den Kopf stoßen und sich international blamieren würde.
Mehr Gas würde dadurch nicht fließen, denn die russischen Gründe für eine Drosselung der Lieferung durch Nord Stream 1 seien nur vorgeschoben. Eine Öffnung von Nord Stream 2 würde zudem einen ungeheuren Propagandaerfolg für Russlands Präsident Putin bedeuten, kritisieren die FDP-Leute. Parteichef Christian Lindner nannte Kubickis Position "falsch und abwegig".
Schon früher gab es Streit wegen Russland
Lindner und Kubicki verbindet eine alte Männerfreundschaft, doch die hatte schon vor einigen Jahren einen ersten Knacks bekommen: Auch dabei spielte das Verhältnis zu Russland eine Rolle. Kubicki kritisierte die Sanktionen gegen Russland, die im Zuge der Annexion der Halbinsel Krim 2014 verhängt worden waren, Lindner billigte sie. Die britische Zeitung Guardian spekulierte sogar über mögliche Verbindungen zwischen dem Anwalt Kubicki und der Betreiberfirma der Gaspipeline Nord Stream 2. Kubicki dementierte jede Verbindung zu dem Projekt.
Doch für "Wandel durch Handel" mit Russland und auch die Pipeline hat er sich schon seit langem engagiert ausgesprochen. Dass seine Kanzlei nicht selten durch illustre und finanzstarke Mandanten von sich reden macht, hat Kubicki bislang nicht geschadet, eher hat er daraus den Nimbus der finanziellen Unabhängigkeit abgeleitet, der Politik aus purer Leidenschaft ermögliche. Als schleswig-holsteinischer Landespolitiker kritisierte er die Cum-Ex-Geschäfte um mehrfache Steuerrückerstattungen scharf, als zeitweiliger Anwalt des Hauptbeschuldigten Hanno Berger vertrat er eine deutlich mildere Meinung. Zudem gilt Kubicki als langjähriger Lobbyist der Glücksspielbranche.
Dass Kubicki über den Pipeline-Streit stürzt, sei nicht zu erwarten
Seine hohe Popularität hat dem Partei-Urgestein in der FDP bislang eine Art Narrenfreiheit garantiert, trotz des vereinzelten Vorwurfs, er fische gezielt am ganz rechten Rand im Reservoir der AfD-Wähler. Doch jetzt nimmt das Murren über Kubicki zu, der seine Forderung, Nord Stream 2 zu öffnen, zuletzt noch bekräftigte. Zumal seine Dauerpräsenz auf allen Kanälen auch innerparteiliche Eifersucht weckt.
Noch erkennen in den Reihen der Liberalen zwar fast alle an, welch großen Beitrag der Provokateur zur Pflege des freiheitlichen Markenkerns der Partei leistet. Damit, dass Wolfgang Kubicki über den Pipeline-Streit stürzt, rechnet niemand. Aber es ist wie in der Kneipe, wenn der große Aufsprecher den Bogen überspannt. Dann drehen sich die anderen einfach weg.