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Ein Jahr Krieg in der Ukraine: Putins Chronik des Scheiterns

Wolodymyr Selenskyj, Präsident der Ukraine, während seines Besuchs in Cherson. Am 24. Februar 2023 jährt sich der Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine.
Foto: Pressebüro des ukrainischen Präsidenten, dpa
Krieg in der Ukraine

Für Putin ist der Angriff auf die Ukraine bisher eine Chronik des Scheiterns

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    Ausgerechnet am "Tag des Sieges" sieht Wladimir Putin wie ein Verlierer aus. Der kalte Moskauer Wind zurrt am dünnen Haar und am Redemanuskript. Der Präsident muss die Seiten aufs Pult drücken, er verblättert und verhaspelt sich. Russland habe keine andere Wahl gehabt, sagt er, als sich in der Ukraine zu verteidigen. Man sei der Nato und dem "Nazi-Regime" in Kiew nur zuvorgekommen. Kein Wort vom Sieg, der im Februar noch reine Formsache zu sein schien. An diesem 9. Mai 2022 jedoch, an dem die Menschen in Russland an die Heldentaten des eigenen Volkes im Zweiten Weltkrieg erinnern, spricht Putin von Tod und Verlust. Das "Hurra" am Ende seiner Rede klingt erschöpft. Die Elitesoldaten, die vor ihm über den Roten Platz marschieren, antworten kraftlos.

    Natürlich ist der müde Auftritt des Kremlchefs am 9. Mai nur eine Momentaufnahme. Aber echte Siegeszuversicht strahlt Putin im ersten Kriegsjahr nie aus. Dabei ist auf den blutgetränkten Schlachtfeldern im Donbass nach zwölf Monaten des Tötens und Sterbens noch nichts entschieden. Doch Putin muss sich an den eigenen Zielen messen lassen. Und die gehen weit über die Ostukraine hinaus. Was der russische Präsident im Sinn hat, als er in den frühen Morgenstunden des 24. Februar 2022 den Beginn einer "Spezialoperation" im Nachbarland verkündet, ist nichts Geringeres als eine neue Weltordnung. Dabei folgt er einem mehrstufigen Masterplan. Erstes Ziel des Kreml-Herrschers ist "die Entnazifizierung und Entmilitarisierung der Ukraine".

    Die Sonne geht hinter den Häusern der ukrainischen Hauptstadt Kiew auf. Putin ist es bislang nicht gelungen, die Stadt einzunehmen.
    Die Sonne geht hinter den Häusern der ukrainischen Hauptstadt Kiew auf. Putin ist es bislang nicht gelungen, die Stadt einzunehmen. Foto: Kay Nietfeld, dpa

    Es geht also um einen Regimewechsel in Kiew. Die Einsetzung einer moskautreuen Marionettenregierung soll die Abwendung der Ukraine vom Westen garantieren. Doch diese "Heimholung" ist nur der Anfang. Sie soll ein Rollback der Nato aus Osteuropa einleiten, ein Zurückdrängen vor allem der Amerikaner aus den Landstrichen, die Putin für sich selbst und seine Großmachtfantasien in Anspruch nimmt. Die US-geführte Allianz müsse sich auf die Positionen von 1997 zurückziehen, verlangt Putin schon im Dezember 2021. Als Brüssel und Washington ablehnen, reist der Kremlchef Anfang Februar nach China. Mit Staatschef Xi Jinping gibt er eine Erklärung heraus, die das Ende des amerikanischen Zeitalters einläutet. Und beginnen soll alles in Kiew.

    In Kiew landen am 24. Februar 2022 russische Fallschirmjäger

    Dort landen am 24. Februar russische Fallschirmjäger. Ihr Ziel: Präsident Wolodymyr Selenskyj festzunehmen oder zu töten. Zugleich dringen Invasionstruppen im Donbass vor und im Süden, von der Krim aus. Den entscheidenden Schlag führen sie aber von Norden gegen die Hauptstadt. Die Paradeuniformen liegen obenauf im Marschgepäck. Putin ist sich sicher, dass die Menschen im Nachbarland seine Soldaten mit Brot und Salz freudig begrüßen werden. Doch niemand in der Ukraine jubelt. Stattdessen schalten Selenskyjs Spezialeinheiten das russische "Killerkommando" aus. Der ukrainische Präsident bleibt nicht nur am Leben. Er bleibt auch in Kiew, statt ins Exil zu gehen.

    Putin scheitert also schon mit seinem ersten und wichtigsten Ziel. Denn ohne den Sturz der Regierung kann es keinen schnellen Sieg in der Ukraine geben und kein Rollback des Westens. Stattdessen wird aus der "Spezialoperation" schnell ein echter Krieg. Doch dafür ist seine Invasionsarmee nicht gerüstet. Russische Soldaten berichten von der Front, dass in der Truppe "heilloses Chaos herrscht". Eine Strategie? Selbst Offiziere wissen von nichts. Die Offensive kommt vor Charkiw im Osten ebenso zum Stillstand wie vor Odessa im Süden. Satellitenbilder zeigen, wie sich vor Kiew ein 65 Kilometer langer Konvoi staut und sich faktisch selbst zum Abschuss freigibt. "Totaler Dilettantismus", urteilen Militärexperten. Der ukrainischen Armee fehlen nur die richtigen Waffen. Noch.

    In Moskau verschwindet in diesen Tagen Verteidigungsminister Sergei Schoigu von der Bildfläche. Ist er bei Putin in Ungnade gefallen? Die Panik im Kreml ist mit Händen zu greifen. Niemand hat einen Plan B. Als Schoigu wieder auftaucht, brechen seine Truppen die Belagerung Kiews ab. Was sie zurücklassen, löst weltweit Entsetzen aus. In Butscha, einem militärisch unbedeutenden Vorort, sind die Straßen mit Leichen von Zivilisten übersät. Gefesselt, gefoltert, erschossen. Ermittler zählen 458 Tote. Und es ist nur der Auftakt. Je länger die Kämpfe dauern, desto klarer wird, dass Putin aus der Not des Scheiterns heraus auf Terror setzt.

    Im Mai vergangenen Jahres nahmen die Russen die Stadt Mariupol in die Zange. Über dem Stahlwerk Azovtal stieg immer wieder Rauch auf.
    Im Mai vergangenen Jahres nahmen die Russen die Stadt Mariupol in die Zange. Über dem Stahlwerk Azovtal stieg immer wieder Rauch auf. Foto: dpa

    Das deutet sich schon im März an, als die russische Luftwaffe die Hafenstadt Mariupol in Schutt und Asche legt. Hunderte Menschen sterben, als eine lasergelenkte Bombe ein Theater trifft, in dem Zivilisten Schutz suchen. Im April schlagen mehrere Raketen im Bahnhof des ostukrainischen Kramatorsk ein, wo Frauen und Kinder auf ihre Evakuierung warten. 57 Menschen sterben. Dass es sich um eine gezielte Strategie handelt, wird spätestens im Herbst klar. Mit iranischen Drohnen zerstören die Angreifer Trafostationen und Heizkraftwerke. Die Menschen sollen frieren und hungern. Damit sie ihren Widerstandsgeist verlieren. Damit sie kapitulieren. Doch daraus wird nichts. Es wird der Siegeswille und der Kampfgeist der Ukrainerinnen und Ukrainer sein, der die Welt beeindruckt und dafür sorgt, dass selbst Länder wie Deutschland über ihren politischen Schatten springen.

    Die Ukraine wurde durch Russlands Angriffkrieg zur Nation

    Es ist wohl Putins größtes strategisches Versagen, dass er seine Gegner fundamental falsch einschätzt. Das gilt vor allem für die angeblich gespaltene Ukraine. Der Terror von außen schweißt das Land im Innern zusammen. Zugleich verliert Putin den Kampf um die Weltöffentlichkeit. In der UN-Vollversammlung verurteilt eine selten große Mehrheit von 141 Staaten die Aggression. Nur Belarus, Syrien, Nordkorea und Eritrea stimmen mit Russland. Die Bilder von Gefolterten und Massakrierten scheinen Joe Biden recht zu geben. "Putin ist ein Schlächter", sagt der US-Präsident in einer programmatischen Rede in Warschau. Er schwört den Westen auf einen langen Kampf ein. Und alle ziehen mit.

    Waffenlieferungen: Ramstein wird zum Schauplatz für Ukraine-Hilfe

    Auf der US-Air-Base Ramstein in Rheinland-Pfalz treffen sich im April 2022 zum ersten Mal Abgesandte aus rund 50 Staaten und vereinbaren eine dauerhafte Militärhilfe für die Ukraine. Waffenlieferungen im großen Stil beginnen. Doch mehr noch: Die neutralen Nordstaaten Schweden und Finnland beantragen die Aufnahme in die Nato. Statt eines Rollbacks bekommt Putin eine erneute Erweiterung der Allianz – auch wenn die Türkei den Vollzug zunächst blockiert. Zum Schauplatz von Putins schwerster Niederlage wird aber Berlin. Ausgerechnet Berlin. "Wir erleben eine Zeitenwende", erklärt Kanzler Olaf Scholz nur drei Tage nach Kriegsbeginn im Bundestag. "Im Kern geht es um die Frage, ob Macht das Recht brechen darf, oder ob wir die Kraft aufbringen, Kriegstreibern wie Putin Grenzen zu setzen."

    Scholz kündigt 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr und Waffenhilfe für die Ukraine an. Entscheidend ist aber, dass er die strategische Partnerschaft mit Moskau aufkündigt. Seit dem Kalten Krieg haben alle Bundesregierungen auf "Wandel durch Handel" gesetzt – und auf Annäherung gehofft. Mit fatalen Folgen. Als Putin seine Armee aufmarschieren lässt, hängt die deutsche Wirtschaft wie ein Junkie am billigen Gas aus Russland. "Im Kreml haben sie geglaubt, Deutschland in der Tasche zu haben", erklärt die Historikerin Anne Applebaum. Ein Irrglaube. Scholz stoppt die Fertigstellung der Pipeline Nord Stream II. Innerhalb weniger Monate gelingt es, das russische Gas zu ersetzen. Das ist teuer. Aber Putins Versuch, die Bundesregierung durch einen Lieferstopp zu erpressen, scheitert. Berlin zieht auch bei Sanktionen mit, die auf Deutschland zurückschlagen. In großen Teilen der Bevölkerung wird der neue Kurs der Regierung mitgetragen –, obwohl beinahe jeder Haushalt die Folgen davon auf seiner Energie-Abrechnung nachlesen kann.

    In einem Souvenirladen unter dem Maidan wird unter anderem Toilettenpapier mit einem Foto des russischen Präsidenten angeboten.
    In einem Souvenirladen unter dem Maidan wird unter anderem Toilettenpapier mit einem Foto des russischen Präsidenten angeboten. Foto: Kay Nietfeld, dpa

    Zum Fanal der neuen Zeit wird die Explosion der Nord-Stream-Pipelines im September. Ein Sabotageakt, für den nur ein Staat die Mittel hat. Darin sind sich Fachleute einig. Beweise für eine Täterschaft liegen bis heute nicht vor. Klar ist aber, dass der Kreml in jenen Tagen die letzten Brücken abbricht, die nach Westen führen. Der Putin-Vertraute Dmitri Medwedew erklärt kurz vor der Pipeline-Sprengung: "Russland hat seinen Weg gewählt. Es gibt kein Zurück." Putin verkündet die Annexion von vier ukrainischen Regionen und ordnet eine Teilmobilmachung in Russland an. "Alles auf Sieg", lautet die Botschaft, die demütigende Niederlagen vergessen machen soll. So versenken die Ukrainer die "Moskwa", das Flaggschiff der Schwarzmeerflotte, und zerstören Teile der Krim-Brücke. Im Sommer fliehen die Kremltruppen panisch aus der Region Charkiw. Im Herbst 2022 ziehen sie geschlagen aus Cherson ab.

    Wladimir Putin geht innenpolitisches Risiko ein

    Mit der Mobilmachung erhöht sich allerdings das innenpolitische Risiko für Putin. In den ersten Kriegsmonaten ist es ihm problemlos gelungen, jeden Widerstand im Keim zu ersticken. Der Machtapparat arbeitet so reibungslos wie die Propagandamaschine. Die Staatsmedien hämmern den Menschen die Lügengeschichte von der "Spezialoperation gegen Nazis in Kiew" ein. Sie erzählen von der aggressiven Nato und der atomaren Gefahr, die angeblich vom Westen ausgeht. Da erscheint es nur logisch, dass Putin seinerseits mit einem nuklearen Schlag droht. Das verbale "Spiel mit der Apokalypse" soll die Angst steigern: in der Ukraine, im Westen, aber auch in Russland selbst.

    Millionen Menschen, vor allem Frauen und Kinder, haben ihre Heimat Ukraine verlassen.
    Millionen Menschen, vor allem Frauen und Kinder, haben ihre Heimat Ukraine verlassen. Foto: Emilio Morenatti, dpa

    Das gelingt. Kritik üben nur Hardliner, die noch mehr Brutalität in der Ukraine fordern – und sie auch praktizieren. Der Chef der berüchtigten Söldnergruppe "Wagner", Jewgeni Prigoschin, lässt angebliche "Verräter" standrechtlich exekutieren. Eine Gefahr für Putin ist Prigoschin aber nicht. Am Ende des ersten Kriegsjahres ist der Kremlchef so unangefochten wie zu Beginn. Das ist wohl sein größter Erfolg. Weltpolitisch jedoch steckt er tief in der Defensive. Beim Eurasien-Gipfel im September lassen ihn die anderen Staatschefs reihenweise warten. Indiens Premier Narendra Modi rüffelt Putin vor laufenden Kameras. Xi Jinping ist zunehmend genervt von den ewigen Atomdrohungen. Er distanziert sich noch vor dem G-20-Gipfel im November, bei dem Russland isoliert ist. Putin reist erst gar nicht an.

    Putin gibt nach einem Jahr Ukraine-Krieg nicht auf

    Den Bruch mit dem Westen hat er ohnehin längst vollzogen. Zum Symbol wird ein sieben Meter langer Tisch im Kreml, an dem er noch vor Kriegsbeginn Gäste wie den französischen Präsidenten Emmanuel Macron oder Kanzler Scholz platziert, die wollten den Geschichten glauben, dass es sich beim Truppenaufmarsch an der Grenze um ein Manöver handelt. Ihre Geheimdienste haben sich geirrt. Doch auch Putin hat sich geirrt: Der russische Präsident hat nicht nur den Westen, den er für dekadent und schwach hält, falsch eingeschätzt, sondern vor allem den Widerstandswillen in der Ukraine. Mit seinem Plan, durch Krieg eine neue Weltordnung zu erzwingen, ist er auf ganzer Linie gescheitert. Und dennoch: Die Bilanz des ersten Kriegsjahres ist nicht mehr als eine Zwischenbilanz.

    Wie lange werden die Nato-Partner es noch schaffen, die Ukraine mit Waffen zu versorgen? Wie lange werden sie durchhalten in diesem Krieg, bei dem sich kein Ende abzuzeichnen scheint. Dass sie ihre Solidarität immer und immer wieder betonen, kann durchaus auch als Zeichen der Unsicherheit gelesen werden. Und: Putin hat seine Ziele nicht erreicht, aber auch nicht aufgegeben. Die ukrainische Armeeführung rechnet mit einer russischen Offensive, die in Kürze beginnen werde. Für den 24. Februar erwarten sie in Kiew nichts Gutes.

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