Durch die russische Invasion der Ukraine könnten so viele Menschen in die Flucht getrieben werden, wie in den Jugoslawienkriegen von 1991 bis 2001 zusammen. Damals waren laut dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge bis zu vier Millionen Kinder, Frauen und Männer betroffen. Das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) stellt sich nun auf diese Zahl an Ukraine-Flüchtlingen ein.
In Deutschland und Europa laufen die Vorbereitungen für die Aufnahme. Innenministerin Nancy Faeser (SPD) sieht die Bundesrepublik für eine Flüchtlingsbewegung aus der Ukraine gerüstet. Die Regierung sei wachsam und vorbereitet auf das, was komme, versicherte sie. Zahlreiche Städte und Kommunen hätten bereits ihre Hilfe angeboten. Im Moment, so Faeser weiter, bestehe noch Unklarheit über die Zahl der Menschen, die wegen des Kriegs flüchten könnten.
"Tausende" Menschen wegen Krieg in der Ukraine in die Nachbarländer geflüchtet
Mit Bezug auf das UNHCR sagte sie, dass sich aktuell rund 100.000 Menschen innerhalb der Ukraine auf den Weg gemacht hätten. Nun gehe es zunächst darum, vor allem die Nachbarländer der Ukraine zu unterstützen. Zuvor hatte Faeser angekündigt, Deutschland prüfe eine "unbürokratische Aufnahme". Bürgerinnen und Bürger der Ukraine können bereits mit biometrischem Pass ohne Visum nach Deutschland einreisen und bis zu 90 Tage bleiben. Zudem gibt es die Möglichkeit einer Aufenthaltserlaubnis zum "vorübergehenden Schutz".
Laut dem UNHCR sind in den vergangenen Tagen "Tausende" in benachbarte Staaten wie Polen, Moldau, die Slowakei oder auch nach Russland geströmt. Sollte sich die Situation weiter verschlechtern, könne es bis zu vier Millionen Flüchtlinge geben. Rund jeder Zehnte der knapp 42 Millionen Ukrainer könnte also das Land verlassen, in das am Donnerstag russische Truppen einmarschiert waren. Die Bundesregierung, so sagte ihr Sprecher Steffen Hebestreit am Freitag in Berlin, erwarte derzeit, dass zunächst Polen die erste Anlaufstelle für die Menschen aus der Ukraine sein werde. Die Bundesregierung habe dem Nachbarland ihre Hilfe angeboten.
Europäische Innenminister beraten über Krieg in der Ukraine und Flucht
An diesem Sonntag wollen die Innenminister der 27 Staaten der Europäischen Union zu einer Krisensitzung zusammenkommen. Dabei solle es "über konkrete Antworten auf die Situation in der Ukraine" gehen, so der derzeitige Vorsitzende der Runde, der französische Innenminister Gérald Darmanin. Polen hat bereits angekündigt, Erstaufnahmezentren für geflüchtete Menschen aus der Ukraine einzurichten. Innenminister Mariusz Kaminski sagte, sein Land werde "so viele, wie an unseren Grenzen sein werden", aufnehmen. Auch die Slowakei und Rumänien sind nach Angaben ihrer Regierungen auf die Aufnahme vorbereitet.
Die bislang größten Fluchtbewegungen in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg waren durch die Kriege im zerfallenden Vielvölkerstaat Jugoslawien zwischen 1991 und 2001 in Gang gesetzt worden. Angesichts von Gräueltaten auf fast allen Seiten und Massakern an der Zivilbevölkerung hatten bis zu vier Millionen Menschen ihre Heimat verlassen, etwa die Hälfte davon kam aus Bosnien und Herzegowina. Deutschland nahm bis 1995 rund 350.000 Menschen auf. Davon sind laut einer Studie der Uni Bamberg bis auf 20.000 "Härtefälle" die meisten wieder zurückgekehrt.
Im Zuge des Kosovo-Krieges kamen ab 1998 weitere 55.000 Flüchtlinge nach Deutschland, von ihnen konnten nur 5000 in ihre Heimat zurückkehren. In der Zivilgesellschaft entstanden damals zahlreiche Initiativen zur Unterstützung der Geflüchteten aus Ex-Jugoslawien.
Appell an die Zivilgesellschaft: Jede und jeder Einzelne sei gefragt
Diakonie-Präsident Ulrich Lilie rief die Bundesbürger dazu auf, jetzt auch möglichen Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine zu helfen. „Bei aller Fassungslosigkeit über den perfiden Angriff Russlands - nun ist es wichtig, Menschlichkeit und Anteilnahme zu zeigen und uns wenigstens das auch etwas kosten zu lassen. Wir alle können durch Spenden oder tätige Unterstützung etwas dafür tun, dass Menschen aus der Ukraine, die jetzt bei uns Schutz suchen werden, in den Ländern und Kommunen großzügig aufgenommen werden.", sagte er unserer Redaktion.
Nun seien "Bund und Länder, die Zivilgesellschaft und jede und jeder Einzelne gefragt." Es brauche "sichere Aufenthaltstitel und ausreichend Unterkünfte, Beratung und Begleitung in unseren Migrationsfachdiensten, praktische Hilfe vor Ort von freiwillig Engagierten genauso wie Spenden für humanitäre Hilfe als Zeichen der Mitmenschlichkeit".
Es sei, so Lilie weiter, ein "Zeichen gelebter Nächstenliebe, den Menschen in der Ukraine, deren Bevölkerung schon im 20. Jahrhundert unendliche Opfer erbringen musste, sei es durch deutsche, sei es durch sowjetische Gewalt, mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln zu helfen und beizustehen“.
Alle Informationen zur Eskalation erfahren Sie jederzeit in unserem Live-Blog zum Krieg in der Ukraine.