Wenn Europa zwei Dinge von den Deutschen erwartet, dann sind es Verlässlichkeit und Kontinuität. Und zumindest bei diesen Tugenden hat die neue Bundesregierung in den vergangenen Tagen geliefert. Wie bereits unter Angela Merkel und Gerhard Schröder reiste Kanzler Olaf Scholz (SPD) für seine ersten Antrittsbesuche am Freitag erst nach Paris, dann nach Brüssel. Ist es Ausdruck des frischen Winds, den die Ampelkoalition für Europa verspricht, dass Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) mit einem Tag Vorsprung ihre Vorstellungstour absolvierte? Sie weilte bereits am Donnerstag in den beiden Hauptstädten. Die Botschaft an die europäischen Partner aber war gleich. In den Worten des Bundeskanzlers klang sie so: „Deutschland ist eine sehr europäische Nation.“ Und die deutsche Politik müsse „sich unmittelbar verantwortlich fühlen für den Fortschritt in Europa“, wie Scholz nach einem Treffen mit der EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen sagte. Es war nicht nur Balsam für die europäische Seele, sondern auch das, was sie in Brüssel hören wollten.
Von der Leyen betonte die Bedeutung des größten Mitgliedsstaats für die Entwicklung der Gemeinschaft. Die deutschen Kanzler und die deutsche Kanzlerin hätten immer einen sehr prägenden Einfluss. Den frühzeitigen Besuch von Scholz in Brüssel bezeichnete die Kommissionschefin denn auch als „ein ermutigendes Signal“. Es zeige, welch hohen Stellenwert die neue Regierung dem Thema Europa widme.
Macron empfängt Kanzler Scholz in Paris
Am Mittag wurde Olaf Scholz zunächst in Paris von Emmanuel Macron empfangen. Es war das Treffen zweier Männer, die sich noch nicht gut kennen, aber schätzen – und das auch deutlich zeigen wollten. Hier ein Schulterklopfen, da ein freundliches Lächeln und Zunicken: Die beiden deuteten bei ihrem Zusammentreffen bereits mit ihren Gesten an, was sie dann mit Worten noch unterstrichen: „Ich freue mich sehr, lieber Olaf, dich heute für diese erste Reise außerhalb Deutschlands in Paris zu empfangen“, sagte Macron, körperlich zu Scholz zugewandt, den er duzte. Er habe die „soliden Überzeugungen“ seines Gegenübers und viele Übereinstimmungen feststellen können. „Wichtig ist, dass wir gleichgerichtet agieren“, ergänzte der deutsche Kanzler. Themen der Begegnung waren die europäische Zusammenarbeit, der Klimawandel, die Digitalisierung sowie die Migration mit dem Ziel, die EU-Außengrenzen besser zu schützen.
Dass Scholz die Tradition fortführte, den ersten Auslandsbesuch im neuen Amt in Frankreich zu machen, entspricht auch der Versicherung im Koalitionsvertrag, dass „eine starke deutsch-französische Partnerschaft, die den Vertrag von Aachen und die Deutsch-Französische Parlamentarische Versammlung mit Leben füllt“, die künftige Regierung leite.
In Paris weckt die neue Ampel-Regierung aus SPD, den europafreundlichen Grünen, aber auch der FDP, die im EU-Parlament mit Macrons LREM-Partei in derselben Fraktion sitzt, positive Erwartungen. Forderungen der neuen Koalition nach einer „strategischen Souveränität Europas“ oder nach einem Ende der Einstimmigkeitsregel in der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik kamen gut an – sie klingen wie ein spätes Echo auf die Europa-Rede mit etlichen Vorschlägen, die der damals frisch gewählte Präsident im September 2017 in der Pariser Universität Sorbonne gehalten hatte.
Erwartungen an Deutschland sind hoch
Tatsächlich sind die Erwartungen an die Bundesrepublik nicht nur in Frankreich, sondern in der gesamten EU hoch. Man erhofft sich von den Deutschen Impulse und Lösungen bei den großen Krisen dieser Zeit, etwa beim Thema Rechtsstaatlichkeit. Hinzu kommt, dass die Brüsseler Behörde ihre ambitionierten Ziele im Kampf gegen den Klimawandel oder bei Reformen der Haushaltsregeln nicht ohne die Unterstützung aus Berlin durchsetzen kann. Doch insbesondere die Finanzen der EU gehören zu jenen Problemen, die heikel für Scholz werden dürften. Denn Länder wie Frankreich, Italien und Spanien fordern den Abschied von einem alten Tabu, das Reform des Stabilitäts- und Wachstumspakts heißt und eine Aufweichung der strengen Haushaltsregeln bedeutet. Inwieweit die Bundesregierung jenen Ländern entgegenkommen will, da hielt sich Scholz bedeckt. Er meinte nur, für Wachstum und solide Finanzen zu sorgen, sei kein Widerspruch: „Es wird uns gelingen, da zu gemeinsamen Konzepten zu kommen.“
Auch wenn die Pläne aus Berlin eine im Vergleich zur Vorgängerregierung andere Herangehensweise auf europäischer Ebene andeuten und einen neuen Ton versprechen, scheint es so, als stünde Deutschland in Sachen Finanzen weiterhin eher auf der Seite der Sparsamen, jenem Klub nordeuropäischer Länder, die bei der Diskussion um Möglichkeiten für eine höhere Staatsverschuldung empört abwinken.
Bei den ersten Auslandsreisen geht es vor allem um Symbolik
Zu den kontroversen Themen gehört auch die französische Forderung, Atomkraft auf EU-Ebene als „grüne Energie“ mit entsprechenden Förderungen einzustufen – vor allem die Grünen wenden sich entschieden dagegen.
Am Freitagabend traf sich Scholz noch mit Ratspräsident Charles Michel sowie Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg. Obwohl auch dieser ein höheres finanzielles Engagement vonseiten Deutschlands wünscht, ging es bei den Vorstellungsrunden von Baerbock und Scholz vor allem um Symbolik. Die Details werden in naher Zukunft besprochen, am kommenden Donnerstag steht für Scholz in Brüssel der erste EU-Gipfel der 27 Staats- und Regierungschefs als Kanzler an.