Gerade einmal vier Wochen ist es her, dass sich Premierminister Rishi Sunak betont selbstbewusst gezeigt hat. Damals kündigte der 44-Jährige Neuwahlen an. Unsichere Zeiten erforderten einen klaren Plan und mutiges Handeln, sagte er. Heute wirkt Sunak defensiv und kleinlaut. Dass es zwei Wochen vor der britischen Parlamentswahl für die Konservativen schlecht aussieht, mutet inzwischen wie eine Untertreibung an. In der Tory-Partei herrscht regelrechte Untergangsstimmung. Nicht nur, dass sich Pleiten, Pech und Pannen aneinanderreihen. Vertraute des Premiers werden verdächtigt, Insiderwetten auf den Wahltermin abgeschlossen zu haben. Auch der Einstieg des Rechtspopulisten Nigel Farage in den britischen Wahlkampf verpasste den ohnehin bescheidenen Hoffnungen Sunaks auf eine Wiederwahl einen heftigen Dämpfer. Eine Niederlage scheint sicher – vielleicht sogar noch mehr: Laut Umfragen könnten die Tories bei den Wahlen am 4. Juli die geringste Anzahl an Sitzen im Parlament seit ihrer Gründung erhalten. Und: Regierungschef Sunak verliert wohl sogar seinen Wahlkreis – und damit seinen Sitz im Parlament in London. Als erster Premierminister der Geschichte.
Für den Tory-Chef würde das im sofortigen Rücktritt enden – für die Partei in einem ernsthaften Streit über die zukünftige politische Ausrichtung. Im Angesicht schlechter Umfragewerte rücken die Konservativen bereits seit längerem immer weiter nach rechts. Beobachter befürchten gar eine Machtübernahme durch jene rechtsextremen Kräfte, die mit dem aufstrebenden Rechtspopulisten Farage sympathisieren. Andere Experten spekulieren, dass ein Wahlverlust ungekannten Ausmaßes die fast 200 Jahre alte konservative Partei sogar insgesamt in ihrer Existenz bedrohen könnte.
Tories stecken seit Langem in der Krise
Doch tatsächlich dürfte so manchem Konservativen die aktuelle Situation bekannt vorkommen. Schließlich steckte die Tory-Partei auch 2019 in einer tiefen Krise. Die damalige Premierministerin Theresa May konnte das Parlament nicht von ihrem Brexit-Deal überzeugen. Die Konservativen verloren bei den Wahlen zum Europäischen Parlament massiv. Ihr Stimmenanteil war auf zehn Prozent geschrumpft – Farages Brexit-Partei, welche dem Volk erfolgreich nach dem Mund geredet hatte, hingegen gewann über 30 Prozent. Das hatte es noch nie gegeben.
Um den Rechten etwas entgegenzusetzen, machten sich die Tories in der Folge deren Politik zu eigen. Einwanderung ist Farages Lieblingsthema. Die EU-Freizügigkeit zu beenden, war einer seiner Hauptgründe für den Brexit. Doch die Nettomigration stieg sogar noch einmal deutlich an – allen Versprechen der Konservativen zum Trotz. Bei den Tories kam es zum „Aufstieg einer lautstarken Minderheit von überzeugten Euroskeptikern, die die Partei in Richtung der radikalen populistischen Rechten drängten“, sagt Tim Bale, Politologe an der Queen Mary University of London, unserer Redaktion. Die Partei suchte einen Retter und schien ihn in Boris Johnson gefunden zu haben. Er war charismatisch, vermittelte Tatendrang. Viele hätten gewusst, dass er ein politischer Schurke war, glaubt der Politologe. Doch trotz der Vorbehalte dachten die Abgeordneten damals, dass sie keine andere Wahl hätten. Der einstige Bürgermeister Londons war ihr letzter Wurf.
Liz Truss stürzte die britische Wirtschaft in die Krise
Er ging daneben: Der populistische Politikstil passte nicht zur konservativen Wirtschaftspolitik. Hatte das Versprechen Johnsons, den Brexit durchzuboxen, die Partei noch für eine Weile zusammengehalten, traten die Konflikte bald offen zutage, sagt Sophie Stowers von der Denkfabrik UK in a Changing Europe. „Johnson entpuppte sich schnell als Scharlatan“, erklärt auch Bale. Nach zahlreichen Skandalen um Partys in der Downing Street während der pandemiebedingten Ausgangssperren und aufgrund seines fragwürdigen Umgangs mit der Wahrheit wurde er im Sommer 2022 aus dem Amt gedrängt; auf ihn folgten zwei weitere konservative Premierminister: Liz Truss, die mit ihrem sogenannten Mini-Budget die britische Wirtschaft in eine tiefe Krise stürzte, und schließlich Rishi Sunak.
Letzterer versprach Wandel, erlag aber ebenfalls den Verführungen des Populismus, um Wähler, die mit Farage sympathisieren, zu erreichen. „Sunak hätte sein Regime bewusster von dem Johnsons und Truss' abgrenzen sollen, aber seine dünne Basis an Unterstützern und seine eigenen rechtsgerichteten sozialen und wirtschaftlichen Werte hielten ihn davon ab“, sagt Bale.
Wird die Partei nach der Wahl Anfang Juli also noch weiter nach rechts rücken? Laut Sophie Stowers neigten die Tories dazu, den Grund für ihre Wahlniederlagen darin zu suchen, dass sie nicht rechts genug sind. Wie es weitergeht, hänge jedoch auch davon ab, welche Konservativen ihre Sitze im Parlament behalten: „Wenn mehr rechte Kandidaten überleben, ist es vorstellbar, dass die Partei in diese Richtung gezogen wird. Wenn es mehr zentristische Abgeordnete sind, dann werden sie womöglich wieder mehr in die Mitte rücken." Und an der Spitze der Partei? Könnte sich auch hier ein Rechtspopulist durchsetzen? Womöglich gar Farage, der bis 1992 selbst Parteimitglied war? „Sicher ist das nicht, aber möglich", sagt Bale. "Er wird wohl nicht die Nachfolge von Sunak antreten, aber er könnte denjenigen ersetzen, der es tut."