Herr Schuch, ausgerechnet kurz vor Weihnachten hat ein Anschlag die Menschen in Deutschland erschüttert. Zwar ist die Motivlage nicht islamistisch – fürchten Sie dennoch, dass diese Tat das Zeug hat, die Gesellschaft weiter zu spalten?
RÜDIGER SCHUCH: Der abscheuliche Anschlag hat mich und alle in der Diakonie zutiefst schockiert. Wir fühlen mit den Opfern und ihren Angehörigen. Aus Respekt vor ihnen verbieten sich voreilige Schlüsse. Stattdessen muss wirklich alles aufgeklärt werden und es müssen die richtigen Konsequenzen gezogen werden. Denn gerade eine offene demokratische Gesellschaft, die verletzlich ist, muss alles tun, um den Schutz aller zu gewährleisten. Durchschaubar ist, wie Extremisten von rechts vom ersten Moment an versucht haben, den Anschlag für ihre eigene politische Agenda zu instrumentalisieren und das Land weiter zu spalten. Das verspottet die Opfer des Anschlags und alle Menschen, die tief mit ihnen fühlen. Sicherheit für alle braucht kluge Sicherheitspolitik und Zusammenhalt.
Es ist nicht das einzige Thema, das polarisiert. Im Wahlkampf machen einige Parteien gegen das Bürgergeld mobil. Es wird da vielfach der Eindruck erweckt, man müsse die Faulen sanktionieren. Was halten Sie von dieser Art, Wahlkampf zu machen?
SCHUCH: Mich erfüllt mit Sorge, dass die Diskussion um das Bürgergeld derart populistisch betrieben wird. Ich halte es für gefährlich, auf Kosten derer, die es eh nicht einfach haben im Leben, politischen Streit zu entfesseln. Die Bundesagentur für Arbeit geht davon aus, dass zwischen 14.000 und 16.000 Menschen nicht arbeitswillig sind. Es wird aber suggeriert, dass wir es mit Hunderttausenden von Menschen zu tun haben, die sich mit dem Bürgergeld ein ruhiges Leben machen. Seriös ist das nicht.
Zu den Bürgergeld-Kritikern gehören auch die beiden Unions-Parteien mit dem C im Namen. Haben Sie CDU-Chef Merz oder den CSU-Vorsitzenden Söder mal drauf hinweisen können, dass es womöglich wenig christlich ist, eine Neiddebatte auf dem Rücken ärmerer Menschen zu führen?
SCHUCH: Wir sind auch mit diesen beiden Parteien im Gespräch. Aber die populistische Diskussion um das Bürgergeld führen wir jetzt schon seit über einem Jahr, und leider sind fast alle Parteien daran beteiligt. In der Debatte geht zum Beispiel völlig unter, dass viele Bürgergeldempfänger zwar nicht in der Lage sind zu arbeiten, sich aber im Rahmen ihrer Möglichkeiten ehrenamtlich engagieren und so auch einen Beitrag für die Gesellschaft leisten. Auch von daher halte ich eine populistisch zugespitzte Diskussion für unfair.
Hat Sie das plötzliche Ampel-Aus überrascht?
SCHUCH: Nein. Es hatte sich über viele Monate angedeutet, dass diese Koalition das Ziel September 2025 nicht erreichen wird. Ich bin eher überrascht über die Schärfe des Rosenkrieges der Ex-Partner.
Sie hatten sich wenige Wochen vorher noch gegen Kürzungen im Sozialbereich des Haushalts 2024 ausgesprochen und für eine Bürgergeld-Erhöhung plädiert. Wie sehr sorgen Sie sich, dass es mit der neuen, aller Voraussicht nach unionsgeführten Regierung eher noch schärfere Einschnitte in diesem Bereich geben wird?
SCHUCH: Mein Eindruck ist, dass dieser Bundestagswahlkampf sehr stark vom Thema Migration geprägt sein wird, außerdem von der Wirtschaftspolitik und natürlich von äußerer und innerer Sicherheit. Da ist es in der Tat nicht ganz einfach, die soziale Sicherheit einzubringen. Für uns wird es darauf ankommen, wichtige Themen der Sozialwirtschaft wie die Pflege oder eben auch das Thema Bürgergeldbezug auf die politische Agenda zu bringen. Wir werden dafür alle Anstrengungen unternehmen. Die Parteien sollten das auch tun.
Warum?
SCHUCH: Beim Sozialstaat, den wir treffsicher und chancenorientiert weiterentwickeln müssen, geht es nicht um Almosen, die sozusagen vom Tisch fallen. Der Sozialstaat gehört untrennbar zur stabilen Demokratie. Und er stärkt die Zuversicht in unseren sehr bewegten Zeiten. Der Sozialstaat ist aus guten Gründen Staatsziel, alle Parteien sollten sich ihm verpflichtet fühlen.
Im Umkehrschluss bedeutet das, dass Kürzungen Gräben aufreißen und die Demokratie aushöhlen?
SCHUCH: Ich möchte das gerne am Beispiel der Pflege deutlich machen. Wir sind bereits in einer sehr krisenhaften Lage. Wenn es nicht bald zu einer wirklichen Reform der Pflegepolitik kommt, dann geraten wir in den nächsten drei, vier Jahren in eine katastrophale Situation. Aktuell werden von den etwa 5,7 Millionen Pflegebedürftigen in Deutschland 4,9 Millionen zu Hause gepflegt. Wenn aber aufgrund der unzureichenden Finanzierung und des Fachkräftemangels immer mehr Überforderung in der häuslichen Pflege entsteht und Familien das Gefühl haben, dass sie alleingelassen werden, dann erodiert das Vertrauen in die Lösungskompetenz der demokratischen Parteien. Davor habe ich Sorge. Das heißt, wir brauchen eine gut ausfinanzierte Pflegeversicherung. Wir brauchen dringend eine Pflegereform. Nur so entsteht Vertrauen, dass dieser Staat den demografischen Wandel bewältigen kann. Sonst haben die Demokratieverächter neues Futter.
Die Linken gehen mit der Forderung nach einer Vermögensteuer in den Wahlkampf, die Grünen wollen eine weltweite Milliardärssteuer. Den Reichen nehmen und den Armen geben – ist das ein Prinzip, bei dem Sie mitgehen können?
SCHUCH: Die Diakonie hat sich bis jetzt nicht für eine Milliardärssteuer ausgesprochen. Aber ich will deutlich sagen: Starke Schultern können auch Starkes schultern. Ich erhoffe mir, dass wir in Zeiten knapper Gelder auch darüber nachdenken, wie diese starken Schultern ihre gesamtgesellschaftliche Verantwortung stärker wahrnehmen können. Dazu gehört, dass man sich auch das Steuersystem anschaut. Das Ziel muss doch sein, die Herausforderungen der kommenden Jahre fair zu finanzieren. Bisher wird nur über Kürzungen bei den Ärmsten diskutiert. Was ist mit den Vermögendsten?
Sie plädieren für eine Reform der Schuldenbremse. Die ist aber im Prinzip ja schon sehr dehnbar und lässt viele Ausnahmen zu. Was schwebt Ihnen genau vor?
SCHUCH: Zunächst darf man die Verantwortung für die kommenden Generationen nicht aus dem Blick verlieren. Ich glaube aber, dass eine Reform der Schuldenbremse dazu beitragen kann, auf lange Sicht Geld einzusparen. Wer beispielsweise heute in Bildung investiert, muss später weniger für unterstützende Maßnahmen für Menschen in bildungsfernen Milieus bezahlen. Jeder weiß, wer am falschen Ende spart, zahlt später drauf. Es geht also um eine intelligente Reform der Schuldenbremse, die Investitionen - auch ins Soziale - ermöglicht und dadurch viel höhere Folgekosten verhindert. Ich warne auch davor, die sehr wichtigen Fragen von äußerer und innerer Sicherheit gegen Fragen der sozialen Sicherheit und des sozialen Zusammenhalts der Gesellschaft auszuspielen. Es muss uns gelingen, diese unterschiedlichen Herausforderungen zusammenzuführen und sie gemeinsam zu denken und zu lösen. Es darf kein Gegeneinander und keine populistischen Priorisierungen geben.
In Syrien hatte der Diktator Assad das Land gerade erst verlassen, da setzte in Deutschland bereits der Streit über die Rückführung von Flüchtlingen ein. Wie erleben Sie die Debatte?
SCHUCH: Ich halte es für wenig seriös, in dieser Phase Menschen mit 1000 Euro nach Syrien zu schicken und zu sagen: Da ist jetzt euer Land, eure Zukunft. Wir haben doch noch keinerlei Ahnung davon, wie es dort weitergeht. Entwickelt sich da ein islamistischer Staat, der gegen religiöse und ethnische Minderheiten vorgeht? Werden die Menschenrechte geachtet? Wir können das jetzt noch nicht sagen, und deshalb können wir keine Programme dazu aufsetzen. Wichtiger ist es, Syrerinnen und Syrer in ihren Überlegungen zu unterstützen. Da geht es darum, ob sie gut integriert in diesem Land bleiben wollen oder ob sie ihre Fähigkeiten und Möglichkeiten, die sie hier erworben haben, wieder ihrem Heimatland zur Verfügung stellen.
Klimawandel, Kriege, kaputte Wirtschaft: Viele Menschen winken angesichts fortsetzend schlechter Entwicklungen entnervt ab, schauen keine Nachrichten mehr, wollen nur noch ihre Ruhe haben. Sie hingegen müssen hinschauen. Sie sind jetzt ein Jahr im Amt. Wie gehen Sie mit dem Stress um?
SCHUCH: Es ist in der Tat so, dass wir in unruhigen Zeiten leben und erfahren, wie alte Sicherheiten ins Wanken geraten. Diese Verunsicherung spüre ich auch. Aber wenn das Gefühl wächst, dass alles schlechter wird und die Probleme zunehmen, dann gibt es da auch immer wieder Hoffnung. Zum Beispiel, wenn ich gelungene Geschichten von Integration höre. 75 Prozent der 2015 ins Land gekommenen männlichen, erwerbsfähigen Syrer sind heute auf unserem Arbeitsmarkt integriert. Viele von ihnen in helfenden Berufen. Ich habe kürzlich einen Ehrenamtlichen kennengelernt, der trotz einer chronischen Erkrankung, die in erwerbsunfähig macht, sich in einer Bahnhofsmission engagiert und dort unersetzlich geworden ist. Das ist keiner, der Hängematten-Geld annimmt, sondern der sich für diese Gesellschaft einbringt. Das sind die kleinen Geschichten. Und dann gibt es auch größere, die mich hoffnungsfroh stimmen. Es ist wichtig, den Ernst der weltpolitischen Lage wahrzunehmen. Gleichzeitig muss man die Probleme aber ins Verhältnis setzen zu den Fortschritten und Lösungen.
Das ist anstrengend.
SCHUCH: Wir müssen den Mut haben, lange Strecken zu gehen. Das geht am besten gemeinsam. Dazu gehört die Bereitschaft, auch über kontroverse Themen lösungsorientiert zu streiten. Wir sollten auch nicht übersehen, wie stark die Demokratie ist. Und natürlich hilft mir auch mein christlicher Glaube.
Zur Person
Rüdiger Schuch, Jahrgang 1968, wuchs im Ruhrgebiet auf. Bevor er Diakonie-Präsident wurde, leitete er von 2020 bis 2023 das Evangelische Büro NRW in Düsseldorf. Davor war er unter anderem Vorstandsvorsitzender der Evangelischen Perthes-Stiftung in Münster Superintendent an der Spitze des Evangelischen Kirchenkreises Hamm. Schuch studierte evangelische Theologie an den Universitäten Bochum, Tübingen und Wuppertal und wurde 1999 zum Pfarrer ordiniert. Er ist verheiratet und Vater von zwei erwachsenen Kindern.
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