Der Flieger ist noch hoch oben in der Luft, als sich vor dem Zaun des militärischen Flughafens in Köln schon eine Menschentraube bildet. Spontan hatten sie Schilder gemalt und Unterstützer zusammengetrommelt. „Das ist ein Feiertag für uns“, sagt Anastasia Hendzelewski. Sie hält einen Strauß gelber Blumen in der Hand. In der Hektik hat sie kurzerhand die Rosen aus der Vase in ihrer Wohnung mitgenommen – Zeit, neue zu kaufen, war nicht. Doch das ist egal in diesem Moment. „Es macht mir Hoffnung, dass das Putin-Regime irgendwann besiegt wird“, sagt sie. Neben ihr hat sich Walerian Dunin-Barkowski an den Straßenrand gestellt, auf seiner Mütze ist zu lesen „Freies Russland NRW“. In den vergangenen Wochen habe er viele Gerüchte gehört, dass russische Gefangene freikommen, sagt er. Sie zu glauben, das traute er sich nicht. Doch nun ist es tatsächlich so weit. Als historisch wird das Abkommen zwischen dem Westen und Russland eingeschätzt: Mehr als ein Dutzend Oppositionelle, Journalisten und politische Gefangene sind freigekommen. „Wir sind sehr dankbar, dass dieser Deal zustande kam“, sagt Dunin-Barkowski. „Es war ein harter Handel, aber ich bin froh, dass Russen, die für die Freiheit kämpften, nun selbst frei sind.“
Bundeskanzler Olaf Scholz persönlich war an diesem Donnerstagabend ins Rheinland gereist, um jene Männer und Frauen abzuholen, die als Geiseln des russischen Regimes gehalten wurden. Der Kanzler wählt bedachte Worte. Er habe sich mit den Angekommenen ausführlich unterhalten. „Das war sehr bewegend“, sagt Scholz. „Viele haben nicht damit gerechnet, dass das jetzt passiert.“ Manche hätten um ihre Gesundheit und auch ihr Leben gefürchtet. Man kann nur erahnen, was in diesem Moment in im Kanzler vorgeht. Doch dass er sich der Tragweite seiner Entscheidung bewusst ist, das macht er deutlich. Der Gefangenenaustausch sei die richtige Entscheidung gewesen, betont er: „Und wenn man da irgendwelche Zweifel hatte, dann verliert man die nach dem Gespräch mit denjenigen, die jetzt in Freiheit sind.“ Diejenigen, „die um ihr Leben fürchten müssen, weil sie sich für Demokratie und Freiheit eingesetzt haben“, müssten mit Schutz rechnen können. „Das gehört zu unserem Selbstbildnis als demokratische humanistische Gesellschaft dazu“, sagt er.
Putin will Wadim Krassikow freipressen
Scholz, so ist von vielen Seiten zu hören, war einer der entscheidenden Faktoren, dass der Deal mit dem Kreml überhaupt gelingen konnte. Die Amerikaner hatten gedrängt. Doch der, den der russische Präsident wollte, saß nicht in den USA, sondern in Deutschland: Wadim Krassikow, ein Mann, der Mitten in Berlin einen Auftragsmord verübt hatte und inzwischen sogar von Russland offen als FSB-Agent identifiziert wird. Monatelang zogen sich die Verhandlungen. Zweifel, so wird deutlich, hat es in der Bundesregierung viele gegeben. Besonders Außenministerin Annalena Baerbock habe gehadert. Der Tausch widerspricht dem deutschen Rechts- und Gerechtigkeitsempfinden grundlegend.
Krassikow war nicht nur zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt worden, das Gericht hatte auch eine besondere Schwere der Schuld festgestellt. Dadurch ist eine Haftentlassung selbst nach 15 Jahren eigentlich fast ausgeschlossen. Am Ende aber willigt Scholz doch ein. „Ich empfinde große Dankbarkeit gegenüber dem Kanzler“, sagt US-Präsident Joe Biden im Weißen Haus. Deutschland habe große Zugeständnisse gemacht und nichts im Gegenzug verlangt. „Wenn jemand infrage stellt, dass Verbündete zählen - sie tun es.“ Um die Gefangenen zu retten, habe das amerikanische Außenministerium ein Büro mit etwa zwei Dutzend Mitarbeitern eingerichtet, schreibt das Wall Street Journal, die durch Europa und den Nahen Osten jetteten und verhandelten. „Im Mittelpunkt des Kampfes standen die USA und Deutschland, zwei Verbündete, die sich mit dem moralischen und strategischen Kalkül auseinandersetzten, schuldige Gefangene freizulassen, um ihre unschuldigen Bürger nach Hause zu bringen“, schreibt das Blatt und zitiert den deutschen Kanzleramtsminister Wolfgang Schmidt: „So etwas hat es noch nie gegeben.“
Auch der bulgarische Investigativjournalist Christo Grozev stellt die Rolle Deutschlands heraus. In einem Interview des US-Senders CNN berichtet er, dass es erste Verhandlungen über Krassikows Freilassung schon im Frühjahr gegeben habe – damals sollte der Straftäter gegen Putins Erzfeind Alexej Nawalny ausgetauscht werden, das sei aber durch dessen Tod hinfällig geworden. „Dann hat Deutschland sich auf den moralisch wichtigen Standpunkt gestellt und gesagt: Wir verfolgen diesen Austausch weiter, aber Putin muss nun einen viel höheren Preis bezahlen“, sagt Grozev. „Anstatt einer Person für den Killer fordern wir jetzt acht. Und sie haben es durchgesetzt.“
Röttgen: Humanismus unterscheidet uns von Putin
Respekt für den diplomatischen Drahtseilakt zollt selbst die Opposition. Krawallige Kritik, wie sie in Berlin gern vorgetragen wird, ist in Berlin in diesen Tagen kaum zu hören. „Ob man mit Putin über den Austausch von Gefangenen verhandelt und im Zuge dessen unter anderem einen verurteilten Mörder freilässt, ist ein schwerer Abwägungsprozess“, sagt CDU-Außenpolitik-Experte Norbert Röttgen unserer Redaktion. Der Verzicht, den der deutsche Rechtsstaat für ein anderes Gut in Kauf nehme, nämlich das Leben und die Freiheit von 16 unschuldigen Menschen, sei gewaltig. „Darum verstehe ich jeden, der sich damit schwertut“, sagt Röttgen. „Für mich persönlich wiegt das Leben dieser 16 Menschen und die Schicksale ihrer in permanenter Angst lebenden Angehörigen allerdings höher.“ Spätestens seit Alexej Nawalny wisse die Weltgemeinschaft, dass russische Strafgefangenschaft über kurz oder lang den sicheren Tod bedeute. „Dass wir diese Menschen nicht im Stich lassen, sondern alles in unserer Macht Stehende tun, um sie zu retten, ist Teil unseres Humanismus und unterscheidet uns von Putin“, sagt der Außenpolitiker.
Enttäuscht reagieren die Angehörigen des Opfers des Tiergartenmörders. „Das war eine niederschmetternde Nachricht für uns Angehörige“, lassen sie über ihre Anwältin Inga Schulz mitteilen. „Einerseits sind wir froh, dass jemandes Leben gerettet wurde. Gleichzeitig sind wir sehr enttäuscht darüber, dass es in der Welt anscheinend kein Gesetz gibt, selbst in Ländern, in denen das Gesetz als oberste Instanz gilt.“ Besonders bitter: Der ermordete Georgier Selimchan Changoschwili hatte in Deutschland Schutz gesucht. Mehr denn je stellt sich ausgerechnet die Frage, wie sicher Kremlgegner in Europa und insbesondere in Deutschland sind. Denn womöglich könnten potenzielle Attentäter darauf spekulieren, im Falle einer etwaigen Inhaftierung durch einen neuen Austausch freizukommen. Der frühere russische Präsident und heutige Vize des russischen Nationalen Sicherheitsrats, Dmitri Medwedew, empfahl den freigelassenen „Verrätern“ jedenfalls schon mal sich neue Namen zuzulegen und sich „aktiv im Rahmen des Zeugenschutzprogramms zu tarnen“.
Findet sich nun auch ein Deal für die Ukraine?
Doch verbindet sich mit dem Deal vielleicht sogar eine langfristige, eine weitaus größere Botschaft: Dass nämlich die Diplomatie am Ende doch noch die Kraft hat, zwischen Russland und dem Westen zu vermitteln? Rückt ein Friedensschluss in der Ukraine vielleicht sogar näher? Nein, glaubt CDU-Politiker Röttgen und warnt vor voreiligen Schlüssen. „Der Gefangenenaustausch ist rein humanitär und hat keine politischen Implikationen“, sagt er. Kritiker des Deals befürchten gar, dass Putin sich bestätigt fühlen könnte: Wenn er den Preis nur noch genug treibt und den Westen an seiner Schwachstelle, der Humanität, treffe, sei der bereit, selbst die bittersten Pillen zu schlucken.
Zu viel in den Deal hineinzulesen und ein Tauwetter zwischen Moskau und dem Westen zu erwarten, davor warnt auch der Experte für russische Außenpolitik, Fjodor Lukjanow. „Das ist nicht so. Der Austausch ist ein Merkmal für eine etablierte und strukturierte Konfrontation, wie es sie während des Kalten Krieges gab“, schrieb der Chefredakteur Zeitschrift Russland in der globalen Politik bei Telegram. Es sei gut, einen Kanal für Verhandlungen zu haben. Aber über die Zukunft sage das nichts. (mit dpa)
Einseitige Sichtweise der Lage. Nicht alle frei gekommenen Russen waren Mörder wie im Fall Tiergarten. In Slowenien wurde ein RU Agentenpaar 17 Monate in UHaft gehalten ohne Urteil. Nur wenn eigene Leute erwischt werden, ist das natürlich kein Verbrechen. Die USA zeichnen sich aus Missetäter aus ihrer Sicht in die USA zu verbringen um sie dort für begangene Taten ausserhalb der USA zu verurteilen. Im Fall Mossad regt sich niemand auf wenn Israels Feinde auf Befehl liquidiert werden oder die USA bringen irgendwo eine missliebige Person um per Drohne oder Einsatzkommando. Der in Berlin ermordete Georgier war kein harmloser Dissident, sondern im Kaukasus Krieg ein Terrorist. Und im Westen hat sich auch niemand groß aufgeregt als kürzlich in Portugal ein RU Helo Pilot und Verräter der einen Hubschrauber in die UA entführt hat bei der die restliche Besatzung ums Leben kam und der seinen UA Belohnung nicht lange geniessen konnte, weil er wohl einfach im Auftrag Moskaus erschossen wurde.
Was sagen Sie eigentlich dazu, daß der komplett durchgeknallte Ex-Präsident Russlands unverholen den freigelassenen Regimekritikern droht und ihnen anheimstellt, sich fieberhaft neue Namen zu suchen und sich zu tarnen? Wieder mal nix, Herr Hoeflein?
Man sollte diesen Deal nicht zu hoch ansetzen. Putin hat genau das bekommen, was er wollte! Und die westlichen Staaten haben zugestimmt! Wer jetzt daraus möglicherweise eine Verbesserung oder gar einen, wenn auch geringen Gewinn, zu glauben glaubt, der befindet sich gelinde gesagt auf dem Holzweg. Im Gegenteil! Es ist zu erwarten, dass solche Erpressungen weiterhin in naher Zukunft stattfinden werden, denn für Putin ist jetzt doch klar, er kann fordern, inhaftieren und anschließend wieder verhandeln. Zu wessen Gunsten? Dies, so denke ich, kann sich jeder selbst beantworten.
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