Lassen sich die gewaltigen finanziellen Folgen der Energiekrise ohne neue Milliardenkredite überhaupt bewältigen? Darüber streiten die Partner der Ampel-Bundesregierung immer heftiger. Von Tag zu Tag wächst der Druck auf Bundesfinanzminister Christian Lindner, auch im kommenden Jahr die Schuldenbremse auszusetzen.
Rolf Mützenich, Bundestagsfraktionschef der Kanzlerpartei SPD, mahnte gegenüber unserer Redaktion: "Deutschland steht vor riesigen Herausforderungen. Inflation, Gas- und Strompreise belasten die Menschen in hohem Maße." Staatliches Handeln sei der einzige Ausweg. Ohne den Finanzminister vom Koalitionspartner FDP direkt an- und das Wort "Schuldenbremse" auszusprechen, rief Mützenich dazu auf, "alle haushaltspolitischen Wege" offenzuhalten, "um die Unterstützung der Menschen zu finanzieren". Denn die ökonomischen und politischen Schocks der vergangenen Monate müssten so gut wie möglich aufgefangen werden, sagte er. Mützenich weiter: "Das Festhalten an finanzpolitischen Lehrsätzen wird dem Ernst der Lage nicht gerecht."
Die Schuldenbremse wurde in der Krise geboren
Auch der grüne Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck hat Lindner aufgefordert, er solle "die finanzpolitischen Möglichkeiten nutzen, die dieses Land hat". Zu diesen gehöre auch, ein weiteres Sondervermögen, wie für die Bundeswehr, aufzulegen. Die Krise, so der Tenor bei SPD und Grünen, ist so groß, dass jetzt nur viele zusätzliche Milliarden Euro helfen: für weitere Entlastungspakete, Hilfen für die Wirtschaft oder die Rettung wankender Energiekonzerne, wie zuletzt im Fall Uniper.
Dabei ist die Schuldenbremse selbst Kind einer großen Krise. Als 2008/2009 das globale Finanz- und Wirtschaftssystem aus den Fugen geriet, beschloss der Bundestag per Grundgesetzänderung, die Finanzen von Bund und Ländern langfristig zu stabilisieren.
Die Bundesregierung darf demnach jährlich zusätzliche Schulden in Höhe von maximal 0,35 Prozent der Wirtschaftsleistung aufnehmen. Ausnahmen sind für Notsituationen vorgesehen, in denen schnell viel Hilfe gefragt ist – wie in der Corona-Krise.
Durch die Pandemie kletterten die Staatsschulden 2021 auf 2,47 Billionen Euro – eine Billion sind 1000 Milliarden. Und angesichts der Ukraine-Krise hat Finanzminister Lindner für dieses Jahr bereits eine Nettokreditaufnahme von fast 140 Milliarden Euro vorgesehen. Hinzu kommt das ebenfalls kreditfinanzierte 100-Milliarden-Euro-Sondervermögen für die Bundeswehr. Im kommenden Jahr will er die Schuldenbremse unbedingt wieder anziehen. Denn schon jetzt kostet der Schuldendienst im kommenden Jahr den Bund 30 Milliarden Euro. Wenn die Zinsen wie erwartet weiter steigen, macht das neue Kredite teurer.
Finanzminister Lindner sieht sich isoliert
Mit seinem Bekenntnis zur Schuldenbremse sieht sich der FDP-Vorsitzende zunehmend isoliert. "Ich habe gesehen, dass es einsamer um mich wird, nachdem auch Markus Söder jetzt gesagt hat, die Schuldenbremse sei eine Prinzipienreiterei", sagte er dem Nachrichtenportal The Pioneer. Zuvor hatte der bayerische Ministerpräsident Söder erklärt, er sei zwar für die Einhaltung der Bremse: "Aber wenn es zu einer fantastisch großen, schlimmen Krise kommt? Einer Dimension, die über das hinausgeht, was wir denken? Dann kann doch Prinzipienreiterei nicht die Lösung für ein Land sein."
Dagegen bekennt sich Oppositionsführer und CDU-Chef Friedrich Merz noch zur Schuldenbremse. "Sie zu lösen, ist keine Option", sagte er am Freitag. Beim Bund-Länder-Gipfel in der kommenden Woche dürfte der Druck auf Lindner weiter zunehmen. Denn neben Söder fordern weitere einflussreiche Landeschefs neue Kreditaufnahmen oder schließen sie nicht aus. Etwa Stephan Weil (SPD) aus Niedersachsen oder Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU).