Lange war es ein Naserümpfen, ein verärgertes Stirnrunzeln. Wenn sich die Klimaaktivisten mal wieder auf einer Hauptstraße festgeklebt, ein historisches Gemälde mit Tomatensuppe oder Kartoffelbrei beworfen oder die Zentralen verschiedener Parteien mit Farbe beschmiert hatten. In der bürgerlichen Mitte der Gesellschaft war diese zumindest für deutsche Verhältnisse radikale Form des Protests noch nie gut angekommen. Nun aber scheint die Stimmung vollends zu kippen: Die Frau, die am Montag in Berlin von einem Lkw überrollt worden war, ist ihren schweren Verletzungen erlegen.
Es steht der Vorwurf im Raum, dass Rettungskräfte auch deshalb nicht zu ihr vordringen konnten, weil die Aktivisten der Gruppe „Die Letzte Generation“ durch eine Straßenblockade für Stau gesorgt hatten. Zwar liegen inzwischen Dokumente vor, die darauf hindeuten, dass der Stau keinen direkten Einfluss auf die Versorgung der Schwerverletzten hatte, die Ermittlungen laufen. Doch unabhängig vom Ergebnis: Den Klimaschützern bläst ein heftiger Wind ins Gesicht. Anders gesagt: Der Protest gegen den Protest wird immer lauter.
Die Frage, die diskutiert wird, lautet: Wie weit darf Widerstand gehen, selbst wenn er einer guten Sache dient? „Wenn Protestaktionen dazu führen, dass die Sicherheit oder das Leben von Menschen gefährdet werden, ist das schlichtweg nicht akzeptabel“, sagt die Grünen-Chefin Ricarda Lang. Die SPD-Politikerin Katja Mast bezeichnet Teile der Gruppe als „demokratiefeindlich“. Der bayerische Innenminister Joachim Herrmann (CSU) sagt: „Wir können auf keinen Fall zulassen, dass dieser gefährliche Rechtsbruch zur Regel wird.“ Die Polizeigewerkschaft fordert, ein Verbot der „Letzten Generation“ zu prüfen. Die Terrorismus-Expertin Bettina Röhl warnt in der Bild-Zeitung, die Aktivisten seien auf dem Weg der linksterroristischen RAF.
Selbst der Bundespräsident äußert sich zu den Protesten
„Das Ansehen der Gruppe war schon vor dem Unfall nicht gut, es wird weiter abnehmen“, prognostiziert der Protestforscher Christian Volk von der Humboldt-Universität Berlin. Viele Aktionen würden nicht zu den Menschen durchdringen. „Warum man ein Gemälde mit Kartoffelbrei bewirft, ist stark erklärungsbedürftig“, sagt Volk. Die Form des Protests habe bei vielen Demonstrationen stärker im Mittelpunkt gestanden als der Inhalt. Und doch erfülle sich eben zumindest ein Ziel der Gruppierung: Sie bekommt ein extrem hohes Maß an Aufmerksamkeit und erreicht damit genau das, was Protest erreichen will. „Selbst der Bundespräsident fühlt sich genötigt, Stellung zu beziehen“, sagt der Wissenschaftler. „Das ist für die Aktivisten ein sehr großer Erfolg.“
Dass sie vom politischen Establishment kritisiert werden, dürfte also zumindest intern sogar als Bestätigung gesehen werden. Bundesinnenministerin Nancy Faeser fordert deshalb eine entschiedene juristische Verfolgung möglicher Straftaten bei Klimaprotesten. Nun ist es nicht so, dass die Justiz bislang beide Augen zudrückt – rechtlich ist die Sachlage meist ziemlich eindeutig: Am Freitag stand in Berlin eine 56-Jährige vor dem Richter, die sich dreimal an Straßenblockaden von Klimademonstranten beteiligt hatte. Die Anklage: Nötigung und Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte. Am Donnerstag wurden zwei Männer nach einer Attacke auf das weltberühmte Gemälde „Das Mädchen mit dem Perlenohrgehänge“ von Jan Vermeer in Den Haag zu Haftstrafen von je zwei Monaten verurteilt. In Freiburg musste im Herbst ein 20-Jähriger 40 Arbeitsstunden leisten, nachdem er sich auf der Straße festgeklebt hatte.
Protestforscher: Die Gruppe wird getragen von großem Idealismus
Ausbremsen kann die juristische Verfolgung den Protest nicht, daran dürfte auch der Tod der Fahrradfahrerin nichts ändern. „Die Gruppe wird getragen von einer hohen Portion Idealismus, der sie ein Stück weit auch immun macht gegen Rückschläge“, sagt Protestforscher Volk. „Es herrscht die Überzeugung vor, dass sich Politik und Gesellschaft in einem klimapolitischen Schlafwandel befinden. Die Aktivisten machen also das eigene Leben zu einem Gegengewicht, um sich zumindest später nicht vorwerfen zu müssen, passiv gewesen zu sein.“ Auch Mobilisierungsprobleme seien kaum zu erwarten. Der Frust in der Klimabewegung ist groß, die Umweltzerstörung gerade für viele junge Menschen eine Zukunftsfrage, die Aufmerksamkeit für die „braveren“ Fridays for Future hat gleichzeitig abgenommen. „Ich glaube, es ist ein genereller Trend, dass die Klimabewegung der Überzeugung ist, dass sie mit ,normalen‘ Protestaktionen nicht die gewünschten Effekte erzielt“, sagt Volk. Tatsächlich zeige auch der Blick in die Geschichte, dass Widerstand nur dann in politische Reformen münde, wenn dieser Widerstand auch gesellschaftliche Kosten verursache. „Das kennen wir aus der Bürgerrechtsbewegung, aus der Anti-Atomkraft-Bewegung – wer etwas verändern will, kann in der Regel nicht allein durch gute Argumente überzeugen“, sagt der Experte. Demonstranten müssten den Alltag stören, um Aufmerksamkeit zu bekommen.
Verstummen, da ist sich Volk sicher, werde die Bewegung nicht. „Die ,Letzte Generation‘ ist eine Gruppe, die auf den Schultern von Riesen steht“, sagt er. Was er damit meint? Die Anti-AKW-Bewegung, die Gründungsmitglieder der Grünen, die Friedensbewegung – all diese Menschen würden zumindest das Grundanliegen der heutigen Aktivisten teilen: Dass die Umwelt stärker geschützt werden müsse. Die „Letzte Generation“ selbst zeigte am Freitag wenig Demut im Angesicht des Todes der Fahrradfahrerin und bat: „Habt Courage. Unterstützt uns!“ Weiter hieß es: „Größtes Risiko für die Menschheit ist den Alltag einfach weiterzumachen. Größte Gefahr ist hinzunehmen, dass die Regierung nicht mal einfachste Sicherheitsmaßnahmen ergreift.“