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Das erste Jahr des Bundespräsidenten: Wo ist eigentlich Herr Wulff?

Das erste Jahr des Bundespräsidenten

Wo ist eigentlich Herr Wulff?

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    Christian Wulff ist seit einem Jahr Bundespräsident.
    Christian Wulff ist seit einem Jahr Bundespräsident.

    Katja freut sich schon. „Juhuuuuuu, das ist ja so was von guuuut.“ Die 15-jährige Gymnasiastin aus Berlin und ihre beiden Brüder gehören zu den mehr als 500 Kindern, die ihre Eltern am Freitag zu einem besonderen Abend begleiten dürfen – dem Sommerfest des Bundespräsidenten. Bis vor einem Jahr waren dort die Erwachsenen unter sich, was vor allem einem mächtig missfiel: dem neuen Hausherren selbst. Christian Wulff jedenfalls staunte nicht schlecht, als er zwei Tage nach seiner Wahl auf der Terrasse von Schloss Bellevue stand und in den weitläufigen Garten seines Amtssitzes blickte: Das einzige Paar mit Kind waren der erste Mann im Staate und seine Frau Bettina.

    „Diesmal machen wir das anders.“ Wulff sitzt auf dem Rückflug nach Berlin in einer kleinen Maschine der Luftwaffe und erzählt schmunzelnd, wie verdutzt einige Gäste geschaut hätten, als er sie damals nach ihren Kindern gefragt habe. Mit der ganzen Familie zum Bundespräsidenten? Das akkurat gestutzte Grün des Schlossparks niedergetrampelt von einer Horde Halbwüchsiger? Undenkbar, bis dahin – auch für das Protokoll des Präsidialamtes, das es gerne vornehm hat und nicht so laut. Wulff aber, in zweiter Ehe verheiratet und vor drei Jahren noch einmal Vater eines Sohnes geworden, ist mit seinen 52 Jahren nicht nur der bislang jüngste Präsident, sondern auch einer der wenigen, dessen Kinder noch nicht aus dem Haus sind, als er sein Amt antritt. Das prägt – und verpflichtet. Bei den Feiern zum Tag der Einheit in Bonn gibt es im Garten der Villa Hammerschmidt deshalb ebenfalls ein großes Kinderfest.

    „Wer sich für die kleinen Dinge zu schade ist“, sagt Wulff gerne, „ist auch für die großen nicht geeignet.“ An diesem Nachmittag stapft der Präsident in schwarzen Sicherheitsschuhen über die Baustelle der Elbphilharmonie in Hamburg, die immer teurer wird und noch nicht so aussieht, als könnte er sie in drei Jahren tatsächlich schon eröffnen. Doch während einer der Architekten dem prominenten Besucher und seiner Frau stolz die kräftigen Federpakete zeigt, auf denen er den Konzertsaal gelagert hat, damit von draußen nur ja kein Laut nach innen und von drinnen kein Ton nach außen dringt, beschäftigt Wulff eine noch viel praktischere Frage, eine von den eher kleineren, aber nicht minder wichtigen. Ob eine normale Familie sich hier einen Konzertbesuch überhaupt leisten könne, will er wissen. Und nickt zufrieden, als der Intendant ihm versichert, dass sie im günstigsten Fall in der Elbphilharmonie nicht mehr bezahlen muss, als für einen Kinobesuch.

    Ein Jahr ist Wulff am 1. Juli im Amt, und wenn man so will, steht dieser Antrittsbesuch in Hamburg stellvertretend für ein ganzes Jahr: Der neue Präsident ist ein geduldiger, aufmerksamer Zuhörer, der auch nach mehr als drei Jahrzehnten in der Politik die Bodenhaftung noch nicht verloren hat – der große, präsidiale Auftritt aber liegt ihm bisher so wenig wie die große, aufrüttelnde Rede. Dafür menschelt es bei ihm schnell. Auf dem Weg zur Elbphilharmonie etwa schlendert er an einer Gruppe von Rentnerinnen vorbei, die einen Ausflug in die neue postmoderne Hafencity mit ihren Lofts und Penthouses gemacht hat und nun vor einem Café in der Sonne sitzt. „Und Sie wohnen hier“, fragt der Präsident neugierig. „Nein, das können wir uns nicht leisten, so hoch sind unsere Renten nicht“, entgegnet eine Seniorin schlagfertig. „Ja, ja das sieht alles ein bisschen teuer aus“, stimmt Wulff zu. Wenig später, als er bereits um die nächste Ecke gebogen ist, sagt eine der Frauen noch zu ihrer Freundin: „Also, das ist wirklich ein sympathischer Mann.“

    Auch für die zehnjährige Ella Schönsteiner aus Augsburg, die mit ihren Eltern zufällig im Foyer des Rathauses steht, als der Bundespräsident von einem Mittagessen mit Bürgermeister Olaf Scholz kommt, hat sich der Besuch in Hamburg gelohnt. Wulff lässt sich bereitwillig mit ihr fotografieren, erkundigt sich rasch, ob der FC

    Gut ein Jahr nach dem plötzlichen Rücktritt Köhlers liegen die Popularitätswerte des neuen Präsidenten nur unwesentlich unter denen des alten. 85 Prozent der Deutschen sind mit der leisen, unauffälligen Art zufrieden, in der Christian Wulff sein Amt führt. Sie suggeriert offenbar eine Art von Verlässlichkeit, wie sie selten geworden ist im Geschäft mit der Macht, sie birgt aber auch die Gefahr, beim öffentlichen Wiegen schnell für zu leicht befunden zu werden. Köhler, zum Beispiel, hatte schon vor seiner Wahl in einem Buch angekündigt, er werde notfalls auch unbequem sein. Bei Joachim Gauck ist die Unangepasstheit ohnehin einer seiner faszinierendsten Charakterzüge. Wulff dagegen, der sich in der Bundesversammlung erst im dritten Wahlgang gegen den Favoriten des Feuilletons durchgesetzt hatte, strahlt eine Ruhe aus, die seine Kritiker schon für einen Ausdruck intellektueller Bequemlichkeit halten, die er selbst aber sehr bewusst gesucht hat, um nach einem verpatzten Start wieder aus den Schlagzeilen zu kommen.

    Umstrittener Urlaub bei Wirtschafts-Boss

    Es ist schließlich einiges zusammengekommen in den ersten Monaten: Der Urlaub auf dem Anwesen eines mäßig beleumundeten Finanzmagnaten auf Mallorca, die notdürftig verklausulierte Rücktrittsforderung an den Duisburger Oberbürgermeister nach der Tragödie bei der Love-Parade – und, nicht zuletzt, der Fall Sarrazin. Oder, genauer gesagt, jener eine, fatale Satz, den er dazu gesagt hat: „Ich glaube, dass der Vorstand der Bundesbank schon einiges tun kann, damit die Diskussion Deutschland nicht schadet – vor allem auch international.“

    Die Bundesbank, der nichts heiliger ist als ihre Unabhängigkeit, im Vorbeigehen mal schnell zur Entlassung eines Vorstandsmitgliedes aufzufordern: So etwas würde Wulff heute nicht mehr über die Lippen kommen, schon gar nicht öffentlich. Auch die Bemerkung, der Islam gehöre zu Deutschland, hat er in dieser Form nicht mehr wiederholt oder variiert, obwohl er in der Sache nicht anders denkt als damals, im Herbst. Dafür lädt er sich jetzt muslimische Schriftsteller oder bekannte Blogger ins Schloss Bellevue ein, um einen Einblick in andere Welten, kulturelle wie virtuelle, zu bekommen. Auch damit, sagt einer seiner Vertrauten, habe der Präsident sich in seinem ersten Amtsjahr eine Art Fundament für seine Amtszeit gebaut. Mit Überraschungen, soll das heißen, ist durchaus noch zu rechnen, auch mit Kontroversen. Wie weichgespült will Wulff nicht klingen, zumindest nicht auf Dauer.

    Wer ihn in diesen Tagen aus der Nähe erlebt, trifft einen bemerkenswert selbstkritischen Bundespräsidenten, der genau weiß, dass am Anfang einiges schiefgelaufen ist und der sich deshalb umso genauer überlegt, was er heute noch sagt und wo er etwas sagt. Die Euro-Krise zum Beispiel beschäftigt ihn mehr, als es nach außen bisher den Anschein hat. Aber ist es klug, ausgerechnet jetzt die Einladung des griechischen Parlaments anzunehmen und dort zu reden? Ist die allgemeine Europaverdrossenheit nicht nur eine neue Spielart der Politikverdrossenheit oder der Politikerverdrossenheit, wie Wulff es häufig nennt, der ehemalige Politiker?

    Integration, Familie, Europa: Eine Gelegenheit, sich wie seine Vorgänger regelmäßig zu den Themen zu äußern, die ihm besonders am Herzen liegen, hat er gerade erst verstreichen lassen. Die sogenannte Berliner Rede, eine noch von Roman Herzog begründete Tradition, hat in diesem Jahr nicht der Bundespräsident selbst gehalten, sondern das polnische Staatsoberhaupt Bronislaw Komorowski, mit dem ihn viel mehr verbindet als nur das Amt. Größer in Erinnerung geblieben ist damit bisher nur Wulffs Bremer Rede am 3. Oktober, in der er den Islam so plakativ zum integralen Bestandteil der Bundesrepublik erklärte, wie er zuvor als niedersächsischer Ministerpräsident die 38-jährige Aygül Özkan zur ersten türkischstämmigen Ministerin in Deutschland gemacht hatte.

    Die Figur, die er dabei abgibt, ist nicht die schlechteste

    Dass vor allem in der Union das Befremden über den Kern seiner Rede zum Tag der Einheit groß war, stört ihn nicht. Zur Parteipolitik hält der frühere CDU-Vize Wulff längst eine professionelle und durchaus kritische Distanz. Allerdings stört er Angela Merkels Kreise auch nicht regelmäßig durch pointierte Regieanweisungen wie der Seiteneinsteiger Köhler, der die Berliner Rede auch genutzt hat, von der Regierung mutigere Reformen oder eine bessere Bildungspolitik zu fordern. Wulff dagegen, so scheint es, sucht noch ein wenig nach seinem neuen Platz auf der Bühne, wenn nicht gar nach seiner Rolle.

    In Hamburg, in der Elbphilharmonie, ist das nicht anders. Die Fotografen und Kameraleute bekommen das gewünschte Motiv nur mit Mühe. Wulff steht neben Architekt und Intendant, lässt sich alles ausführlich erklären und hört gar nicht richtig hin, als ein Kameramann ihn auffordert, sich doch einmal an die Stelle zu begeben, an der einmal der Dirigent stehen wird. Fast zögerlich folgt er der Bitte, als wäre es ihm unangenehm, so im Mittelpunkt zu stehen. Die Figur aber, die er dabei abgibt, ist nicht die schlechteste.

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