Lange kannten die Corona-Zahlen vor allem eine Richtung: nach unten. Seit kurzem ist in den Statistiken eine Trendumkehr zu bemerken. Nicht nur die im Moment ohnehin eher zu niedrig ausgewiesenen Inzidenzen steigen, auch der R-Wert ist auf 1,31 geklettert – erst, wenn der R-Wert unter 1 liegt, nimmt das Infektionsgeschehen deutlich ab. Verursacht wird er durch die deutlich ansteckendere Omikron-Variante BA.5, die sich schnell in Deutschland ausbreitet. Aber auch die zunehmende Mobilität der Menschen spielt eine Rolle.
Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach spricht von einer Sommerwelle und rechnet mit wenig Entspannung in den kommenden Wochen. Im Herbst könnte der Anstieg noch einmal deutlich an Tempo gewinnen. Das Robert-Koch-Institut (RKI) warnt vor wachsendem Infektionsdruck. Auch deshalb forderte der Expertenrat der Bundesregierung eine „vorausschauende Vorbereitung mit kurzen Reaktionszeiten“. Doch Experten kritisieren, dass Deutschland auch nach mehr als zwei Jahren mit einer schlechten Datenlage, die als Grundlage für Entscheidungen dient, zu kämpfen hat.
Der Bonner Virologe Hendrick Streeck ist Mitglied des Expertenrates. Er mahnt, dass die Datenlage besser werden muss. „Das Problem ist nicht, dass wir zu wenige Daten haben“, sagt er. „Aber wir haben die falschen Daten.“ Deutschland benötige ein digitales Echtzeit-Lagebild, das Auskunft gibt über die Hospitalisierungsrate, aber auch eine Aufschlüsselung bereithält, ob Patienten mit oder wegen Corona im Krankenhaus seien. „Zusätzlich brauchen wir verlässliche Daten, ob Leute geimpft oder nicht geimpft sind“, sagt der Virologe. „Das würde uns enorm helfen.“ Immer wieder gab es in der Vergangenheit Hinweise, dass die tatsächliche Impfquote und die gemeldeten Daten nicht übereinstimmen.
Corona-Zahlen steigen: Das fordert Virologe Hendrick Streeck
Ein weiterer Punkt, der in das Lagebild eingespeist werden müsse, sei die Zahl der verfügbaren Betten – dabei komme es nicht darauf an, wie viele Klinikbetten theoretisch vorhanden sind, sondern wie viele auch von Personal betreut werden können. Bislang sind viele dieser Informationen erst mit Zeitverzug bekannt. „Wenn wir ein solches digitales Echtzeit-Lagebild hätten, könnten wir sehr viel sicherer Einschätzungen machen, wie sich das Infektionsgeschehen verhält“, sagt Streeck. Auch ein Abwasser-Monitoring hält er für sinnvoll. Hier wird in Kläranlagen die Konzentration an Coronaviren untersucht, daraus lassen sich Schlüsse über die Ausbreitung des Virus ziehen. Aktuell wird dies nur in einigen Städten in einem Modellversuch genutzt.
Bayern will das Abwasser-Monitoring ausbauen, darauf weist Gesundheitsminister Klaus Holetschek hin. Sein Ministerium versucht so, unabhängiger vom Testverhalten der Bürgerinnen und Bürger zu werden. Doch auch er mahnt die Datenlage an: „Der Bund muss die Digitalisierung der Gesundheitsämter rechtzeitig für den Herbst vorantreiben“, sagt Holetschek. Die Meldeplattformen müssten ausgebaut werden, die Meldepflicht auf einen digitalen Weg gebracht werden.
Wird es noch einmal einen Lockdown geben?
Künftig noch stärker in seiner Bedeutung abnehmen wird wohl der Inzidenzwert – auch, weil sich ohnehin weniger Menschen testen lassen. Der Virologe Streeck sieht darin kein Problem: Im Herbst und Winter komme es nicht so sehr darauf an, durch anlassloses Testen jeden einzelnen symptomlosen Infizierten zu finden, sondern dorthin zu blicken, wo Menschen mit schweren Verläufen rechnen müssen, also etwa auf Alten- und Pflegeheime und auf die kritische Infrastruktur. Ohnehin sei die Lage nicht mehr mit den vergangenen beiden Jahren vergleichbar. „Ich denke nicht, dass wir nochmal an einen Punkt kommen werden, wo wir wieder über einen Lockdown reden“, sagt der Virologe. Daran würden auch die aktuell steigenden Zahlen nichts ändern. „Wir dürfen nicht vergessen, dass wir eine sehr gute Immunität in der Bevölkerung haben“, sagt er. Dazu würden auch die laufenden Infektionen jetzt im Sommer beitragen. Menschen, die sowohl geimpft als auch genesen sind, gelten aktuell als am besten geschützt – wenn auch nicht als komplett immun.
Bayern ärgert sich bei der Corona-Politik über den Bund
Welche Testmöglichkeiten für den Herbst zur Verfügung stehen, ist eine politische Frage – die Entscheidung steht aus. Zum 30. Juni läuft die Coronavirus-Testverordnung des Bundes aus. „Die Bundesregierung lässt die Länder nach wie vor im Unklaren, wie es weitergehen soll“, kritisiert Holetschek. „Klar ist doch: Je mehr Menschen die Möglichkeit haben, sich niedrigschwellig und kostenlos testen zu lassen – und dieses Angebot auch nutzen –, umso schneller und effizienter lassen sich Infektionen entdecken und Infektionsketten unterbrechen.“ Bayern habe den Bund schon mehrfach aufgefordert, Klarheit über die Testmöglichkeiten im Herbst und Winter 2022 zu schaffen und die Testverordnung mit den bisherigen Testansprüchen zu verlängern.
Holetschek macht aus seinem Ärger über die Corona-Bundespolitik keinen Hehl. „Bundeskanzler Scholz und Gesundheitsminister Lauterbach lassen sich vom kleinen Koalitionspartner FDP vorführen, anstatt Führungsstärke zu beweisen: Wir brauchen konkrete Lösungen!“, sagt der Minister. „Wir müssen im Fall des Falles schnell und effizient Maßnahmen ergreifen können – und das vor allem auch auf rechtssicherer Basis. Die Menschen erwarten zu Recht, dass die Politik dazugelernt hat.“
Wie wichtig ist der angepasste Corona-Impfstoff?
Weiterhin liegt auch große Hoffnung auf einer Weiterentwicklung der Impfstoffe. Erste Produkte könnten im September zugelassen werden. Moderna hat erste Ergebnisse veröffentlicht, Experten haben sich die Daten angesehen. „Verglichen mit den neutralisierenden Antikörpern gegenüber dem Ursprungsvirus haben Personen nach der vierten Impfung immer noch weniger neutralisierende Antikörper gegen Omikron“, sagt Carsten Watzl, Chef der Deutschen Gesellschaft für Immunologie. „Daher wird durch die vierte Impfung mit dem angepassten Impfstoff zwar der Schutz vor der Infektion mit Omikron verbessert, er wird aber immer noch nicht so gut sein, wie der Schutz gegenüber einer Infektion mit den früheren Varianten.“ Bei gesunden Menschen sei eine vierte Impfung aktuell nicht erforderlich. Sie würden zwar früher oder später eine Corona-Infektion durchmachen. „Auf diese Weise werden sich die meisten Personen ihre Immunität alle paar Jahre auffrischen“, sagt Watzl. „Personen mit Immunschwäche und alte Personen können aber immer noch ein relativ hohes Risiko für eine schwere Erkrankung haben. Daher sollten diese ihre Immunität im Herbst mit einem angepassten Impfstoff so verbessern, dass sie ohne Infektion oder zumindest ohne schwere Erkrankung durch den Winter kommen.“