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Foto: Andy Wong, dpa
Foto: Andy Wong, dpa

Zusteller stehen vor einer Apotheke Schlange, um die Online-Bestellungen kranker Kunden abzuholen.

Corona-Pandemie
08.12.2022

Was bedeutet die erste richtig harte Corona-Welle für China?

Von Fabian Kretschmer

In Peking bilden sich lange Schlangen vor Kliniken. Bald könnten sich hunderte Millionen Chinesen mit Corona anstecken. Doch nur wenige sind geimpft oder immun.

Bereits zur Mittagsstunde reicht die Warteschlange vor der Fieberklinik des Pekinger Chaoyang-Krankenhauses bis zur nächsten Straßenecke: Eingehüllt in Daunenjacken und FFP2-Masken warten dutzende Personen auf ihren Einlass. Und auch vor der gegenüberliegenden Apotheke hat sich eine beachtliche Menschentraube gebildet. Die meisten von ihnen werden jedoch enttäuscht den Heimweg antreten müssen: Sämtliche Selbsttests und fiebersenkende Medikamente sind längst ausverkauft.

Erst vor wenigen Tagen hat die Volksrepublik China eine pandemische Kehrtwende vollzogen, die in kurzer Zeit die Spielregeln des Alltags auf den Kopf gestellt hat: Nach über zweieinhalb Jahren „Null Covid“ versucht das Land nun, „mit dem Virus leben“ zu lernen. In Peking macht sich dies im Stadtbild mehr als deutlich bemerkbar: Sämtliche Geschäfte haben wieder geöffnet, die Lockdown-Zäune sind praktisch vollständig verschwunden.

China ändert seine Corona-Politik radikal

Doch die neue Realität bedeutet auch: Hat der Staat zuvor mit Quarantänepflicht, Massentests und Absperrungen das Ansteckungsrisiko minimal klein gehalten, ist nun jeder Chinese maßgeblich selbst für seine eigene Gesundheit verantwortlich. Die Staatsmedien publizieren derzeit auf ihren Online-Kanälen zuhauf pädagogische Lehrvideos, wie sie im Rest der Welt vor zwei Jahren üblich waren: von Anleitungen für korrekte Selbsttests bis hin zum richtigen Verhalten im Falle einer Infektion. Eine Lehre, die viele Pekinger ganz offensichtlich noch nicht gezogen haben, liegt auf der Hand: Viel zu viele Personen marschieren bereits beim Anfangsverdacht einer Corona-Erkrankung zum Krankenhaus, die nun vorschnell an ihre Kapazitätsgrenzen gelangen. 

Doch es zeichnet sich bereits ab, dass sich Chinas erste landesweite harte Corona-Welle seit Beginn der Pandemie rasanter anbahnt als zuvor befürchtet. In einem ungewohnt kritischen Artikel berichtet das Online-Magazin Yicai etwa von einem Pekinger Krankenhaus, dessen Notfallambulanz bereits überfüllt sei: „Viele der Patienten wurden nach ihrem PCR-Test positiv getestet“, wird eine Krankenschwester zitiert. 

Experten erwarten, dass sich jetzt 60 Prozent der Chinesen mit Corona anstecken

Und der ehemalige Vizedirektor des nationalen Gesundheitsamtes, Feng Zijian, geht sogar davon aus, dass sich während der Winterwelle bis zu 60 Prozent der 1,4 Milliarden Chinesen anstecken könnten – und insgesamt gar bis zu 90 Prozent. Zum Vergleich: Laut den offiziellen Zahlen sind in China überhaupt nur etwas mehr als 5000 Menschen an dem Virus gestorben, die meisten im Jahr 2020. 

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Doch mittlerweile muten die offiziellen Statistiken realitätsfern an: Denn während sich Omikron ganz offensichtlich unkontrolliert verbreitet, sinken die Fälle seit mehreren Tagen stetig. Landesweit meldete die Gesundheitsbehörde am Donnerstag lediglich etwas über 21.000 Fälle, in Peking sogar weniger als 3400. 

Offizielle Corona-Statistiken sind offensichtlich falsch

Dass die behördlichen Statistiken nicht das tatsächliche Infektionsgeschehen abbilden, steht außer Frage: Aufgrund der aufgehobenen Testpflicht kurieren sich viele Chinesen schließlich im Stillen aus, ohne ihre Ansteckung zu melden. 

Doch der Verdacht liegt zusätzlich nahe, dass die Zahlen der Gesundheitsämter auch darüber hinaus absichtlich manipuliert werden: Unzählige Pekinger, die sich in den letzten Tagen mehrfach getestet haben, haben ihre Resultate schlicht nicht erhalten. Positive Testergebnisse könnten möglicherweise unter Verschluss gehalten werden.

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Auch auf den sozialen Medien ist vielen Usern bewusst, wie realitätsfremd die täglich vermeldeten Zahlen sind. Aus der Stadt Baoding im Pekinger Umland schreibt ein Anwohner auf der Online-Plattform Weibo: „Gestern gab es neun Fälle in Baoding? Allein in meinem Familienkreis sind es bereits zwölf“. 

Die wenigsten Chinesen sind immun durch Corona-Impfung oder -Infektion

Bald jedoch werden sich die Fälle allerdings sehr wohl in den Krankenhäusern bemerkbar machen. Anders als im Westen ist die Teil-Immunität in der Bevölkerung durch Impfungen und überstandene Infektionen in China nur gering ausgeprägt. Um eine Überlastung des Gesundheitssystems zu vermeiden, forcieren die Behörden nun eine gezielte Impfkampagne unter den Senioren. Nur 40 Prozent der über-80-Jährigen haben bislang eine Booster-Dosis erhalten, bis Ende Januar sollen es bereits 90 Prozent sein. 

Sollte das ambitionierte Ziel nicht erreicht werden, dürfte China auf eine gesundheitspolitische Tragödie zusteuern: Sämtliche der aktuell publizierten Prognosen gehen von mindestens einer Million Virustoten aus, im schlimmstmöglichen Szenario rechnet das in London ansässige Unternehmen „Airfinity“ gar mit 2,1 Millionen Toten.

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