Als Angela Merkel das Tongji-Krankenhaus in Wuhan in Nähe des berühmten gelben chinesischen Turms am Ufer des Jangtse-Flusses besucht, ahnt noch niemand, was auf die berühmte Klinik und die ganze Zwölf-Millionen-Einwohner-Stadt in Zentralchina ein paar Wochen später zukommen wird. Dass die damalige Kanzlerin in der Provinz-Hauptstadt am selben Tag als Fest-Gast an der feierlichen Eröffnung des neuen chinesischen Werks des Automobilzulieferers Webasto teilnimmt, wird im Anfang an jenem 7. September 2019 im fernen Deutschland nur als Randnotiz wahrgenommen.
Wenige Monate später kennen fast alle Deutschen die Namen Wuhan und Webasto: Ein Dutzend Mitarbeiter des Standheizungsspezialisten aus dem Landkreis Starnberg gehen Ende Januar als erste Corona-Patienten Deutschlands in die Geschichte ein. Eine aus Wuhan angereiste chinesische Kollegin hat sie in der Firmenzentrale angesteckt. Die Pandemie ist in Deutschland offiziell angekommen.
Wie kam es zu Angela Merkels Wuhan-Reise?
Doch wie kam es dazu, dass Angela Merkel vorher ausgerechnet jenen Ort des Geschehens besucht, das die letzte Phase ihrer Kanzlerschaft beherrschen wird? Der Abstecher von Peking in das über tausend Kilometer entfernte Wuhan geht auch auf Bemühungen des bekannten Medizinethikers und Transplantationschirurgen Eckhard Nagel zurück. „Ich habe damals mit den chinesischen Kollegen die Bundeskanzlerin durch die Tongji-Klinik geführt“, erzählt der frühere Augsburger Chefarzt, der heute als Professor an der Universität Bayreuth lehrt. Nagel fungiert seit 2018 als einer der beiden Präsidenten des deutsch-chinesischen Freundschaftskrankenhauses.
Der 61-Jährige, der lange auch dem Ethikrat angehörte, koordiniert seit 2013 für die Bundesregierung die deutsch-chinesischen Regierungskonsultationen im Bereich Gesundheit. Wuhan kennt er seit Jahrzehnten. Die Tongji-Klinik genießt sogar seit über hundert Jahren als eines der modernsten Krankenhäuser Chinas einen legendären Ruf. „Das Universitätskrankenhaus dort ist sehr vergleichbar mit unseren großen modernen Kliniken“, sagt Nagel. Auch deshalb war Merkels Besuch rückblickend eine wichtige Erfahrung, um die Gefahr der Pandemie zu verstehen.
Sorgenvolle Berichte aus der deutsch-chinesischen Freundschaftsklinik
Nagel räumt freimütig ein, dass auch er im fernen Deutschland, wie viele, anfangs das Geschehen in Wuhan völlig unterschätzt hat. „Wie üblich tauschten wir in der Weihnachtszeit uns mit Grüßen auch darüber aus, was uns beschäftigt“, erinnert er sich. „Da wurden bereits Sorgen in Wuhan deutlich, dass die Notfälle mit Lungenentzündung deutlich zunehmen und auch die spezialisierten Fachabteilungen mit der Diagnose der Ursache nicht richtig weiterkommen.“
In der letzten Dezemberwoche wurden die Berichte immer sorgenvoller. „Ich erfuhr, dass die Anzahl der betroffenen Patientinnen und Patienten erheblich zunimmt und sich eine große Nervosität in der Stadt breitmacht“, sagt Nagel. „Ich weiß, dass ich damals noch beschwichtigend auf die Kollegen eingewirkt habe“, erzählt er. „Es kann immer passieren, dass man nicht gleich einen Erreger findet oder ein bekannter Erreger sich so verändert, dass man ihn zunächst nicht identifizieren kann“, erklärt der Mediziner. „Also ich habe im Dezember 2019 überhaupt noch kein Gefühl dafür gehabt, was sich dort in Wuhan tatsächlich abspielt.“
Die Katastrophe nimmt ihren Lauf
Doch mit jeder weiteren Woche wird ihm klar, dass in Wuhan gerade eine Katastrophe ihren Lauf nimmt – bevor die Behörden am 23. Januar 2020 einen harten Lockdown über die Millionenstadt verhängen. „Wir haben uns in Deutschland gefragt, wie können wir die chinesischen Kolleginnen und Kollegen unterstützen? Können wir Masken und Beatmungsgeräte liefern?“ Doch die Sorge, dass sich das Virus auf die Reise nach Deutschland machen könnte, lag Nagel noch immer fern. „Auch die Vogelgrippe oder selbst Ebola waren ja regional begrenzte Ereignisse, mir kam nicht der Gedanke, dass sich hier gerade eine Pandemie entwickelt“, sagt Nagel. „Mir war auch nicht bewusst, wie viele Chinesen und Chinesinnen nach Europa und vor allem auch nach Italien regelmäßig zur Arbeit kommen.“
Spätestens mit dem Ausbruch von Bergamo war der Albtraum von Wuhan keinen Monat später in Europa angekommen. „Ich glaube, der Bundeskanzlerin hat ihr Besuch in Wuhan später dabei geholfen, die Dimension der Gefahr einzuschätzen“, sagt Nagel. „Mit ihren Eindrücken im Tongji-Krankenhaus konnte sie wahrnehmen, dass sich in Wuhan ein hochmodernes medizinisches System entwickelt hat und dass es sich eine wirkliche Katastrophe anbahnen muss, wenn dort die Probleme außer Kontrolle geraten.“
Der Held von Wuhan rettete einst KZ-Häftlinge
Die Geschichte des deutsch-chinesischen Tongji-Hospitals reicht bis ins Jahr 1900 zurück, als es vom deutschen Arzt Erich Paulun in Shanghai gegründet wurde. Mao ließ die Vorzeige-Uniklinik mit ihrer Deutschen Medizin-Schule 1951 nach Wuhan verlegen. Ihr prägendster Mediziner war der in den dreißiger Jahren in München ausgebildete Chirurg Qiu Fazu.
In der Nazizeit arbeitete der Chinese zunächst in München und operierte unter anderem verletzte deutsche Soldaten. Als Chefarzt und Lazarettleiter in Bad Tölz rettete Qiu Fazu mit einer Schwesternschülerin kurz vor Kriegsende rund 40 KZ-Häftlinge, die SS-Soldaten auf einem Todesmarsch aus Dachau durch den Ort trieben. Vor dem Krankenhaus befahl er den Soldaten: „Diese Gefangenen haben Typhus, wir müssen sie übernehmen.“ Qiu Fazu versteckte sie bis Kriegsende im Keller des Lazaretts. Nach dem Krieg heiratete er die bayerische Schwesternschülerin und ging mit ihr zurück nach China. Dort wurde der Transplantationsspezialist zu einem der berühmtesten Chirurgen des Landes. Bis zu seinem Tod 2008 war Qiu Fazu Ehrenpräsident der Universität Wuhan.
Aus chinesischen Pandemie-Erfahrungen erst spät gelernt
„Ich habe Doktor Qiu Fazu noch in meiner Studienzeit kennengelernt“, sagt Nagel. „Er war eine faszinierende Persönlichkeit und ein ganz entscheidender Treiber der modernen medizinischen Entwicklung in China, der uns alle sehr für sein Land begeistert hat.“ Der 61-Jährige, der viele Jahre Vizepräsident der Deutsch-Chinesischen Gesellschaft für Medizin war, ärgert sich darüber, dass man in Deutschland lange zögerte, von chinesischen Erfahrungen in der Corona-Krise zu lernen. „Ich gehörte zu denjenigen, die bereits im Februar 2020 zur Prävention für klare Regeln zum Tragen von Masken geworben haben. Damals wurden wir belächelt und von Verantwortlichen gerügt, dass so etwas unsinnig sei und nicht zur Kultur in Europa gehöre.“
Natürlich unterscheide sich der Umgang mit der Pandemie im zentralistischen China. „Die Frage der Freiheit und der Einordnung des Einzelnen in die Gemeinschaft gibt es in der chinesischen Kultur seit Jahrtausenden nicht erst seit dem Kommunismus“, sagt der China-Kenner. Doch Nagel sieht auch in Deutschland große gesellschaftliche Probleme im Umgang mit der Pandemie. Am schlimmsten sei es in der Pandemie gewesen, Angehörigen den Zugang zu Sterbenden zu verweigern. „Dafür habe ich bis heute keinerlei Verständnis“, sagt das langjährige Ethikrats-Mitglied. „Hier müssen wir noch viel aufarbeiten, da gibt es noch viel Schmerz bei betroffenen Angehörigen und in der gesamten Gesellschaft, über den wir sprechen und den wir trösten müssen“, fordert er.
Medizinethiker Nagel kritisiert Erzeugen von Angst in den Medien
„Bei uns ist die Betonung auf Angst und Sorge zu stark in den Vordergrund getreten“, kritisiert Nagel auch die Debatte in Politik und Medien. „Ich halte es nicht für hilfreich, jeden Morgen die Nachrichten mit der Anzahl der Neuinfektionen und der Verstorbenen zu beginnen.“ Es sei auch kein Zeichen des Respekts gegenüber den Verstorbenen, sie auf eine tägliche Zahl zu reduzieren, bei deren Vermeldung sich eine gewisse Müdigkeit in der Bevölkerung einstelle.
„Es gibt längst bei den allermeisten ein kollektives Bewusstsein für die Gefährlichkeit von Corona und die Notwendigkeit, sich und andere vor Infektionen zu schützen“, betont der Mediziner. „Es wäre viel hilfreicher, die positiven Möglichkeiten und Chancen eines aktiven verantwortlichen Handelns zu betonen, statt den Schrecken der Krankheit.“ Bei seinen persönlichen Kontakten gewinne er den Eindruck, dass in China der Gemeinschaftssinn durch die Pandemie gestärkt worden sei. „Wir dagegen driften auseinander.“