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Corona-Pandemie: Ein Jahr nach dem Radikal-Lockdown: Shanghai und das kollektive Trauma

Corona-Pandemie

Ein Jahr nach dem Radikal-Lockdown: Shanghai und das kollektive Trauma

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    Ein Fahrzeug, ein Mann in einem Schutzanzug – ansonsten Leere, nichts als Leere: eine Szene aus der Millionenmetropole Shanghai.
    Ein Fahrzeug, ein Mann in einem Schutzanzug – ansonsten Leere, nichts als Leere: eine Szene aus der Millionenmetropole Shanghai. Foto: Chen Si, AP/dpa

    Wenn Yaqiu nach ihren Gefühlen gefragt wird, dann muss sie erst einmal innehalten. „Bislang habe ich noch mit niemandem darüber gesprochen, welche Spuren das letzte Jahr hinterlassen hat“, sagt die Mittzwanzigerin, während sie am kerzenbeleuchteten Tisch eines Thai-Restaurants sitzt. Kellner in dunkler Robe reichen riesige Teller mit Curry und Meeresfrüchten, hinter der Fensterfassade erstrahlen die hell beleuchteten Glastürme der Shanghaier Innenstadt. „Ich verspüre immer noch Wut“, sagt die Büro-Angestellte mit den schulterlangen Haaren. Und dann, nach einer langen Gedankenpause: „Nie hätte ich mir vorstellen können, dass ich mir jemals in meinem Leben um Dinge wie Essen und Wasser Sorgen machen müsse.“

    Doch vor genau einem Jahr trennte eine tiefgreifende Zäsur das Leben der 25 Millionen Shanghaier in ein Vorher und Nachher. Die Lokalregierung ordnete eine Abriegelung der Stadt an, die laut ihrem Versprechen nur vier Tage lang andauern sollte. Doch was schlussendlich folgte, war ein zweimonatiges Martyrium, welches als größter Corona-Lockdown während der gesamten Pandemie in die Geschichtsbücher eingehen sollte.

    Die Corona-Infizierten wurden in Bussen eingesammelt

    Die wohlhabendste und internationalste Metropole Chinas wurde zu einem riesigen Freiluftgefängnis. Die Bewohner, hinter ihren Wohnungstüren eingesperrt, waren vollkommen abhängig von staatlichen Essenslieferungen. Auf den gespenstisch leeren Geschäftsstraßen fuhren nur hin und wieder vereinzelt Busse entlang: Darin saßen die eingesammelten Corona-Infizierten, die in riesige Quarantäne-Hallen gebracht wurden, wo sie auf Feldbetten ihre Erkrankung auskurieren mussten. 

    Was diesen Lockdown so einzigartig machte, war nicht nur seine Radikalität. Sondern auch die erzwungene Unsichtbarkeit: Die kommunistische Parteiführung nahm das Wort „Lockdown“ nie in den Mund, sondern verwendete Begriffe wie „statisches Management“ oder „Ruheperiode“. Im Staatsfernsehen liefen in den Abendnachrichten Beiträge über Supermärkte mit prall gefüllten Gemüseregalen, während sich die Menschen tatsächlich vor Hunger fürchteten.

    Nur in den sozialen Medien konnten die Bewohner ihrer Wut Ausdruck verleihen, die jedoch von den Zensoren nach wenigen Minuten bereits ausradiert wurde. Erst durch den Einsatz mutiger Aktivisten wurden Zeitzeugendokumente öffentlich. Das am meisten geteilte Video war zweifelsohne die „Stimmen vom April“: Während eine Collage aus Luftaufnahmen die stille Geisterstadt zeigt, gibt die Audiospur das Leiden der einfachen Leute wieder: Das Schreien von infizierten Neugeborenen, die unter Zwang von ihren Eltern getrennt wurden. Ein verzweifelter Mann, der seinen im Sterben liegenden Vater vergeblich in ein Krankenhaus einzuliefern versucht. Und auch Nachbarschaftschöre, die auf Kochtöpfen trommelnd neue Essenslieferungen verlangen. Die Polizei ließ Drohnen aufsteigen, welche über Lautsprecher riefen: „Beherrschen Sie den Drang Ihrer Seele nach Freiheit. Öffnen Sie nicht das Fenster – und singen Sie nicht.“

    Wer nur ein Jahr später durch das frühlingshafte Shanghai flaniert, kann die Bilder des Lockdowns kaum mehr mit der Gegenwart in Verbindung bringen: Nahe der Uferpromenade hört man das hämmernde Stakkato der Baumaschinen. Angestellte in Anzügen huschen in der Mittagspause in Cafés. In den Platanen-verhangenen Alleen der einst französischen Konzession haben die Mode-Boutiquen wieder aufgesperrt, bereits am Nachmittag schlürfen junge Hipster sündhaft teure Whiskey-Highballs. Die einzigen sichtbaren Spuren vom letzten Jahr sind vereinzelte Corona-Teststationen, die wie verwaiste Ruinen einer untergegangenen Zivilisation anmuten.

    Plötzlich ging es für die Menschen nur noch um Essen und Trinken

    Doch dass unter der Oberfläche die Traumata weiter nachwirken, weiß wohl niemand besser als George Hu. Der klinische Psychologe vom United Family Hospital hatte bereits im vergangenen Frühsommer, damals noch selbst im Lockdown, die dramatischen Folgen für die kollektive Psyche der Shanghaier erklärt: Drehte sich das Leben vieler Einwohner zuvor um Selbstverwirklichung, Yoga-Unterricht und Work-Life-Balance, ging es nun um die Grundbedürfnisse. „Als der Lockdown begann, gerieten viele von uns plötzlich in eine Situation, in der es schwierig war, überhaupt sauberes Wasser oder genügend Nahrung zu garantieren“, sagte Hu. 

    Hinzu kam die Frage nach dem Sinn des Ganzen: Vorherige Lockdowns, beispielsweise zu Beginn der Pandemie in Wuhan, konnte die Bevölkerung als durchaus notwendig begreifen. Der Erreger war damals neu, unbekannt und weitaus tödlicher. Impfungen lagen noch in weiter Ferne. Mehr als zwei Jahre später allerdings hatten weite Teile der Welt längst damit begonnen, mit dem Virus zu leben. Omikron stellte sich als weniger gefährlich heraus. Impfstoffe standen seit Monaten zur Verfügung. Dennoch sperrte die chinesische Regierung Millionen Menschen ein. 

    Zhang Hui, ein Gemeindearbeiter, patrouilliert nachts in einem Wohngebiet von Shanghai. Es herrscht Ausgangssperre, niemand darf auf der Straße sein.
    Zhang Hui, ein Gemeindearbeiter, patrouilliert nachts in einem Wohngebiet von Shanghai. Es herrscht Ausgangssperre, niemand darf auf der Straße sein. Foto: Jin Liwang, Xinhua, dpa

    Hinter den Haustüren trat eine Humanität zutage, die wohl wenige Shanghaier für möglich gehalten hatten: Nachbarn halfen sich mit Lebensmitteln aus, organisierten gemeinsame Fensterkonzerte und debattierten erstmals offen über stigmatisierte Themen wie psychische Gesundheit. 

    Andererseits aber weigerten sich Nachbarschaften über Wochen, genesene Corona-Patienten aus den Quarantäne-Lagern wiederaufzunehmen. Seuchenschutzmitarbeiter prügelten auf Bürger ein, die sich nicht an die pandemischen Schutzmaßnahmen hielten. Und in mehreren Fällen verweigerten Krankenhäuser medizinischen Notfällen den Einlass: Menschen mussten auf offener Straße krepieren, weil sie keinen negativen PCR-Test vorweisen konnten. 

    „Die Leichtigkeit alter Tage ist weg“, sagt auch Bettina Schön-Behanzin von der europäischen Handelskammer. Die deutsche Managerin, die seit über 25 Jahren in Shanghai lebt, steht in einem holzvertäfelten Konferenzzimmer zwischen Obst-Buffet und Powerpoint-Präsentation, um das neue Positionspapier des Interessenverbands vorzustellen. Es liest sich ein wenig wie eine „Gelbe Karte“ an die Stadtregierung: In 37 Empfehlungen legt die Handelskammer dar, wie sich das angeschlagene Vertrauen der europäischen Unternehmen in Shanghai wiederherstellen ließe, etwa durch größere Marktzugänge. Bezeichnenderweise jedoch wurde das Positionspapier nur wenig später gelöscht – mutmaßlich auf Druck der Zensoren. 

    "Null Covid" hat das Image der Metropole nachhaltig geschädigt

    Dabei täte die Regierung gut daran, auf die internationalen Firmen zu hören. Schon jetzt haben sie massiv Probleme, Fachkräfte nach Shanghai zu entsenden – trotz privilegierter Expat-Pakete, die neben satten Monatsgehältern auch Wohnungsmieten und Heimatflüge enthalten. Selbst europäische Konsuln berichten unter der Hand, dass Chinas führende Wirtschaftsstadt – einst eine Traumdestination für aufstrebende Diplomaten – mittlerweile nur mehr die zweite und dritte Garde an Personal begeistern kann. „Null Covid“ hat das Image der Metropole nachhaltig beschädigt

    Am Abend des 26. November 2022 kommt es zu Protesten in Shanghai.
    Am Abend des 26. November 2022 kommt es zu Protesten in Shanghai. Foto: Uncredited, AP

    Am Abend des 26. November 2022 versammelten sich spontan hunderte junger Menschen in den Gassen der einst französischen Konzession zu einem friedlichen Trauermarsch. Mit Blumen und Kerzen gedachten sie der Todesopfer eines Wohnungsbrands in der nordwestchinesischen Stadt Ürümqi: Mindestens zehn Anwohner waren dort gestorben, weil sie aufgrund der Lockdown-Bestimmungen nicht rechtzeitig gerettet werden konnten. 

    Plötzlich rief eine Frau: "Nieder mit Xi Jinping!"

    Die Stimmung kippte schon bald in Wut und Frustration. Zunächst schrien einige Studenten wahllose Obszönitäten in den Nachthimmel. Und dann, wie aus dem Nichts, rief eine Frauenstimme den in China geradezu unerhörten Satz: „Nieder mit Xi Jinping!“. Die Menschenmenge verharrte mehrere Sekunden in Schockstarre, stimmte dann aber mit ein. Erstmals seit den Studentenprotesten vom Tiananmen-Platz 1989 forderten junge Menschen in China den Rücktritt ihrer Regierung. 

    Die Staatsmacht reagierte, wie sie es in solchen Fällen immer tut: Mehrere Personen wurden verhaftet, etliche weitere zu Verhören geladen. Zudem sorgte der Propagandaapparat in Windeseile dafür, dass die Proteste aus dem kollektiven Gedächtnis ausradiert wurden: Online-Zensoren löschten sämtliche Fotos in den sozialen Medien, die Zeitungen erwähnten das Thema mit keiner einzigen Silbe. Und die Sicherheitspolizei riegelte die gesamte Kreuzung mit Gitterstäben ab. Selbst das Straßenschild, das zum Symbol der Proteste wurde, montierten die Beamten ab – wie um zu signalisieren, dass es hier absolut gar nichts zu sehen gibt. 

    Wer ein Jahr später jenen historischen Ort betritt, findet Normalität vor: Menschen sitzen auf der Terrasse eines Weinladens, Schülerinnen in Trainingsanzügen kaufen beim Eckladen Limonade und Teigtaschen. Doch hinter der Fassade zeigen sich Risse: Auf der einen Straßenseite ist an diesem Abend eine mobile Polizeistation stationiert, auf der anderen Seite parkt ein Auto mit zwei jungen Bereitschaftspolizisten. Sie nehmen jeden Passanten ins Visier, der sich länger als nötig aufhält. 

    Nur wenige Tage nach den Protesten in Shanghai beendete die Regierung die Corona-Beschränkungen genauso radikal, wie sie zuvor umgesetzt worden waren: Von einem Tag auf den anderen gab es keine Zwangsquarantäne mehr, keine Massentests und auch Lockdowns. Die rasante Kehrtwende schockierte selbst jene Mediziner, die zuvor für ein baldiges Ende von „Null Covid“ plädierten: Denn plötzlich schien eine möglichst rasche Durchseuchung das Ziel zu sein. 

    "Der Lockdown war praktisch umsonst", sagt die junge Frau

    Der Übergang wird nun von den Staatsmedien als „Wunder der Menschheitsgeschichte“ angepriesen. Als Xi Jinping zu Beginn des Monats seine dritte Amtszeit beim Nationalen Volkskongress einleitete, sagte sein neuer Premier Li Qiang: „Mehr als drei Jahre lang hat das chinesische Volk unter der starken Führung der Kommunistischen Partei gemeinsam gegen Covid-19 gekämpft, und jetzt haben wir einen großen und entscheidenden Sieg im Kampf gegen die Krankheit errungen.“ Weiter sagte Li, der als Parteisekretär Shanghais den zweimonatigen Lockdown der Stadt zu verantworten hatte: „Die Ereignisse beweisen, dass Chinas Strategien und Maßnahmen völlig richtig waren.“ 

    Für die Mittzwanzigerin Yaqiu sind solche Aussagen ein Schlag ins Gesicht. Auch wenn sie die neue Normalität in vollen Zügen genießt, sagte sie, habe sie die plötzliche und radikale Corona-Öffnung als „Witz“ empfunden: „Der ganze Lockdown war praktisch umsonst“, sagt die Chinesin. 

    Unter ihren Altersgenossinnen steht sie mit ihrer Meinung nicht alleine dar. Doch die meisten ihrer Freunde wollen die Vergangenheit am liebsten einfach vergessen. Seither hat sich in Yaqiu erstmals ein Gefühl breitgemacht, das sie nicht mehr loslässt: „Ich fühle mich manchmal, als gehöre ich nicht mehr nach China.“ 

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