Sogar das Wetter scheint dem saarländischen Ministerpräsidenten einen Strich durch die Rechnung machen zu wollen. Hagel, Regen, Wind und gerade einmal ein paar Grad über Null. Von Aufbruch oder gar einer nachösterlichen Wiederauferstehung des öffentlichen Lebens ist in Saarbrücken nur wenig zu spüren in diesen ersten Tagen des Modellversuchs. Seit Dienstag sind die Außengastronomie, Fitnessstudios, Theater und Kinos wieder geöffnet – Zugangsvoraussetzung ist ein negativer Corona-Test. Das Saarland ist das einzige Bundesland, das bislang einen so flächendeckenden Öffnungsschritt wagt – mitten in der dritten Pandemie-Welle. Doch noch nicht einmal die örtliche Wirtschaft scheint dem Projekt zu trauen. Wie der Hotel- und Gaststättenverband in einer Umfrage ermittelt hat, wollen knapp 60 Prozent der Mitglieder mit einer Öffnung noch warten: Weil es sich wirtschaftlich nicht lohne oder aus organisatorischen Gründen, heißt es.
Denn dass aus Euphorie schnell Zweifel werden können, zeigt derzeit Tübingen. Die Stadt in Baden-Württemberg galt dank ihrer kreativen Corona-Strategie lange als Vorbild. Oberbürgermeister Boris Palmer reist durch die Talkshows, um seine eigenen „Tübinger Weg“ anzupreisen. Inzwischen steigen die Inzidenzwerte so stark, dass über ein Ende des Projektes diskutiert wird. Zum Vergleich: am 18. März betrug der Inzidenzwert der Stadt Tübingen 19,7, am 26. März schon 42,6, am 31. März 89,6 und am 6. April – wohl feiertagsbedingt – 73,2. Noch höher sind die Werte im Landkreis Tübingen: Dort muss inzwischen die Corona-Notbremse gezogen werden.
In Tübingen bleibt die Außengastronomie jetzt zu
Nur weil Palmer weitere Anpassungen seines Modells vornimmt, darf der Versuch fortgesetzt werden. Zu den vereinbarten Maßnahmen gehört, dass die Außengastronomie in Tübingen schließen muss. Für Kitas und die Notbetreuung an Schulen wird zudem ein wöchentlicher Schnelltest für Kinder verpflichtend. Für alle Betriebe mit mehr als 50 Mitarbeitern gilt ab kommenden Montag eine Testpflicht. „Wir kontrollieren, damit der Einzelhandel und die Kultur in Tübingen weiterhin geöffnet bleiben können, ohne dass die Stadt überfüllt ist“, verspricht Palmer. Schon vor Ostern hatte er mit Einschränkungen auf den Ansturm auswärtiger Besucher reagiert und nur noch Tagestickets für Bewohner von Stadt und Landkreis Tübingen ausgegeben.
Dennoch bleibt die Situation wacklig. „Das Modellprojekt ist derzeit gefährdet“, stellt Baden-Württembergs Sozialminister Manfred Lucha klar. „Wenn sich der Anstieg trotz der nun vorgesehenen Maßnahmen fortsetzt und das Infektionsgeschehen zu- statt abnehmen sollte, muss weiter gegengesteuert werden oder im Zweifel dann doch eine Unterbrechung des Projekts erfolgen.“ Tübingen scheint Mahnung zu sein: Die baden-württembergische Landesregierung will die Hoffnungen von über 50 Kommunen, die mit vergleichbaren Konzepten beim Ministerium für eine Öffnung vorstellig geworden sind, nicht erfüllen. Man wolle nun zunächst die Erfahrungen aus dem Tübinger Pilotprojekt abwarten.
Auch im Landkreis Tübingen sorgt der Sonderweg der Universitätsstadt nicht nur für Begeisterung. „Was den Modellversuch angeht, so war und ist der Landkreis Tübingen von Anfang an nicht beteiligt“, sagt Landrat Jürgen Walter. „Es ist gut, wenn man durch Schnelltests Menschen entdeckt, die infiziert sind und die dann niemand anderen mehr anstecken können. Allerdings ist es aus meiner Sicht für die Bevölkerung schwer vermittelbar, dass nur einige hundert Meter von Tübingen entfernt andere Regeln gelten – zumal wir im Kreis Tübingen am Dienstag die sogenannte Notbremse entsprechend den Regelungen der Corona-Verordnung in Kraft setzen mussten.“
Das sagen Experten zu den Corona-Modellprojekten
Kritik an den Modellprojekten kommt zudem von Experten. „Die Verantwortung wird auf den Bürger abgewälzt“, sagt Sandra Ciesek, Direktorin des Instituts für Medizinische Virologie am Universitätsklinikum Frankfurt, in ihrem NDR-Podcast. „Wenn geöffnet wird, muss dem Bürger klar sein, dass das nichts mit Sicherheit zu tun hat.“ Es dürfe nicht der Eindruck entstehen, „dass das sicher ist“, sondern jeder müsse individuell entscheiden, sich auf diese Freiheiten einzulassen oder auf Vorsicht zu setzen. Ähnlich sieht man das bei der deutschen Gesellschaft für Epidemiologie. Die warnt gemeinsam mit der Gesellschaft für medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie sowie dem Forschungsnetz Angewandte Surveillance und Testung in einer Stellungnahme: „Eine Lockerung der Infektionsschutzmaßnahmen ist angesichts einer aktuell stattfindenden dritten Infektionswelle riskant, selbst wenn sie im Rahmen wissenschaftlich begleiteter Modellprojekte unter besonderen Vorsichtsmaßnahmen zur Kontrolle der Infektionsdynamik stattfindet.“
Unterzeichnet ist das Schreiben unter anderem von Viola Priesemann, Pandemie-Modelliererin am Max-Planck-Institut Göttingen. Sie fordert: Wenn schon Modellversuche, dann müssten die nach strengen wissenschaftlichen Kriterien aufgestellt sein. Der Blick auf eine einzelne Region bringe kaum etwas. „Wir müssen Daten aus vielen verschiedenen Modellregionen zusammenführen, damit man daraus eine wissenschaftliche Erkenntnis ziehen kann“, sagt sie. Lernen könne man nur aus dem Vergleich. Geklärt werden müsse zudem, wie stark bestimmte Lockerungen die Infektionsdynamik beeinflussen und welche Schutzmaßnahmen direkte Auswirkungen auf die Infektionszahlen haben.
Anders blickt man im Universitätsklinikum Tübingen auf das Projekt. Für den Infektiologen Peter G. Kremsner, Leiter des Instituts für Tropenmedizin am Universitätsklinikum Tübingen, ist die Botschaft klar: „Es ist von unserer Seite aus in Tübingen nach diesen vier Wochen keine, ich wiederhole, gar keine Änderung des Infektionsgeschehens feststellbar.“ Er führt die steigenden Zahlen auf die zusätzlichen Tests zurück: „Durch die sehr hohe Testhäufigkeit in Tübingen sind die Infektionswerte relativ gesehen gestiegen, die Tests treiben die Inzidenz künstlich in die Höhe. Entscheidender aber ist die Positivrate bei den Tests, und die ist über die letzten vier Wochen sehr konstant geblieben“, stützt der Wissenschaftler die Aussagen von OB Palmer.
So sieht die Corona-Bilanz in Vorarlberg aus
Auch in Österreich fällt die Bilanz eines Modellversuchs zumindest durchwachsen aus. Am 1. März erklärten die Bundesregierung in Wien und die Landesregierung in Vorarlberg das Bundesland Vorarlberg zur Modellregion, aufgrund der vergleichsweise entspannten Corona-Situation mit Inzidenzwerten rund um 70. Ab 15. März öffneten Wirtshäuser, für den Lokalbesuch ist ein negativer Test nötig. In die komfortable Situation war das westlichste Bundesland Österreichs aufgrund seiner geografischen Lage gekommen: Während der zweiten Welle im Winter und den Lockdowns benötigten die Vorarlberger ohnehin praktisch auf allen Wegen einen negativen Test, egal ob man nach Tirol, nach Deutschland oder in die Schweiz unterwegs war.
Seit dem Öffnungszeitpunkt aber steigen in Vorarlberg die Infektionszahlen: Stand Mittwoch betrug die 7-Tages-Inzidenz 132 Fälle auf 100.000 Einwohner, Ende März hatte sich der Wert gar innerhalb einer Woche verdoppelt. Ob dies vor allem auf die Lokalöffnungen zurückzuführen ist, oder ob andere Faktoren das Infektionsgeschehen antreiben, darüber gehen die Meinungen auseinander. „Dass auch wir in der dritten Welle mit steigenden Zahlen konfrontiert werden würden, war klar“, sagt Florian Themessl-Huber, Sprecher der ÖVP-geführten Landesregierung. Mit der Gastro-Öffnung habe das weniger zu tun, ist er sich sicher. Verantwortlich sei vielmehr die mittlerweile auch in Vorarlberg weitverbreitete Mutation B 117. „Die Menschen infizieren sich vor allem auf privaten Feiern, was auch die Gegenmaßnahmen für uns schwieriger macht“, sagt Themessl-Huber. Als Modellregion müsse man „viel schneller reagieren und genauer hinsehen“, so geschehen auch im Falle des Leiblachtals, für das am 25. März Ausreisekontrollen verhängt wurden. Über eine Rücknahme der Lockerungen denkt die Landesregierung nicht nach. „Von großer Wichtigkeit ist hier die Situation in den Spitälern und in den Intensivstationen, und die ist – noch – gut“, sagt Themessl-Huber.
Das schnelle Eingreifen wie im Leiblachtal begrüßt auch Komplexitätsforscher Peter Klimek von der MedUni Wien – stellt aber auch klar: „Dass die Gastronomie das Infektionsgeschehen um rund 10 Prozent anheizen oder vermindern kann, wissen wir aus Studien während der zweiten Welle.“ Klimek verweist auch auf die testgestützten Schulöffnungen: „Trotz des kontrollierten Settings dort haben wir gesehen: Wo es Sozialkontakte gibt, passieren Ansteckungen.“ So genau seien eben auch die Selbsttests nicht.
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