Was sich dieser Tage in Pekings Krankenhäusern abspielt, erinnert auf erschreckende Weise an den ersten Corona-Ausbruch in Wuhan vor exakt drei Jahren: Die Notaufnahmen der Stadt werden von Infizierten überfüllt, während das Gesundheitspersonal dem Ansturm nicht ansatzweise gewachsen ist – es fehlt an Betten, Sauerstoffbehältern und Medikamenten.
Und das wahre Ausmaß des gesundheitspolitischen Ausnahmezustands ist nur schwer zu erfassen, da sich die kommunisatische Regierung gewissermaßen für einen empirischen Blindflug entschieden hat: Bis vor wenigen Tagen hat die Gesundheitskommission noch absurd schöngefärbte Corona-Zahlen veröffentlicht. Jetzt hat sie nach Kritik die täglichen Updates ganz eingestellt, wie sie am Sonntag mitteilte - ohne Angabe von Gründen.
Anfang des Monats hatte die Volksrepublik China die wohl radikalste pandemische Kehrtwende hingelegt: Die drakonische „Null Covid“-Strategie der letzten zweieinhalb Jahre wurde quasi über Nacht durch das Ziel einer schnellstmöglichen Durchseuchung der Bevölkerung ersetzt. Und tatsächlich lernt die chinesische Gesellschaft dieser Tage mit dem Virus zu leben: In Peking ist in den Restaurants und Shopping-Malls eine fast post-pandemische Normalität eingekehrt. Aber das ist nur die eine Seite der Medaille.
Nach Kritik: Chinesische Regierung gibt jetzt gar keine Corona-Zahlen mehr bekannt
Denn intern werden längst realistische Prognosen angestellt: In den sozialen Medien kursieren aufgrund eines Leaks aus der Gesundheitskommission Schätzungen, wonach sich allein in den ersten 20 Dezembertagen von 250 Millionen vom dem Corona-Virus infiziert haben sollen. Das entspricht nahezu einem Fünftel der Gesamtbevölkerung. Einzelne Lokalregierungen haben zudem den mutigen Schritt in die Öffentlichkeit gewagt: Alleine in der Ostküstenstadt Qingdao würde es derzeit zu 500.000 täglichen Neuinfektionen kommen, Tendenz steigend. In der Provinz Zhejiang nahe Shanghai sind es über eine Million neuer Corona-Fälle täglich.
„In China stehen wir vor einer humanitären Krise mit hunderttausenden Toten in den nächsten Monaten“, urteilt der Mediziner David Owens von der Universität Hongkong über die Entwicklung. Wie viele Chinesen genau an dem Virus sterben, hat das Londoner Analyse-Unternehmen „Airfinity“ in einer am Mittwoch publizierten Prognose zu beziffern versucht - es könnten 5.000 Personen pro Tag sein. Einige Schätzungen gehen von bis zu einer Million Toten aus, manche sogar von mehr.
Längst hat das Virus die abgelegenen Provinzen erreicht, in denen das Gesundheitssystem nur rudimentär entwickelt ist. Doch wie Zeugen mit Wunsch auf Anonymität berichten, scheint niemand mehr die Corona-Gefahr ernst zu nehmen: Angestellte werden trotz Fieber ins Büro beordert, Infizierte nehmen weiter am öffentlichen Leben teil. Schuld daran ist auch die öffentliche Propaganda, die nach der überhasteten und radikalen Öffnung des Landes systematisch das Virus bagatellisiert. Die horrenden Konsequenzen werden sich in den nächsten Wochen zeigen.
In Peking sind sie bereits zu sehen. Dutzende Korrespondenten haben sich in den letzten Tagen in die Notaufnahmen der Spitäler geschlichen. Was sie dort zu sehen bekamen, war ein überlastetes Gesundheitssystem: überfüllte Krankenhausflure, auf denen ältere Patienten mit Sauerstoffflaschen um ihr Leben ringen; überforderte Ärzte, die hektisch durch die Gänge rennen – und oftmals selber unter Corona-Infektionen leiden.
China hätte in der Pandemie drei Jahre von anderen Ländern lernen können
Jetzt schlug Wang Xiangwei Alarm. Der chinesische Journalist, der nahezu 26 Jahre für die Hongkonger South China Morning Post gearbeitet hat, berichtet von einer „menschengemachten Krise“: Während Fiebermittel und Blutkonserven Mangelware sind, werden die Krankenhäuser vom Patientenansturm überlastet und die Leichenhäuser von den Toten überfüllt. „Da China fast drei Jahre Zeit hatte, um von anderen Ländern zu lernen und sich auf die Öffnung vorzubereiten: Wie kommt es, dass sie es so sehr vermasseln?“, schreibt Wang in seinem Newsletter.
Und er liefert die Antwort gleich mit: Peking habe „von Beginn an sämtliche Prioritäten falsch gesetzt“. Milliarden gab die Regierung für Quarantäne-Lager und Massentests aus, die gleichzeitig beim Ausbau von Notfallbetten und Fieberkliniken fehlten. Zudem haben die Behörden zu Beginn des Impfprogramms die Vakzine nur für 18- bis 59-Jährige zugelassen, was die Impfskepsis unter den Senioren erhöht habe. Und der jetzige Notstand an Fiebermedizin hat auch damit zu tun, dass die Regierung deren Verkauf bis vor wenigen Wochen noch extrem erschwert hat – aus Angst, einige Personen könnten ihre Corona-Infektion verheimlichen.