Die Befürworter einer Impfpflicht in Deutschland haben einen prominenten Mitstreiter bekommen. „Auch als liberaler Demokrat kann ich eine solche Maßnahme akzeptieren, weil die Impfpflicht meine persönliche Freiheit in einem insgesamt nur sehr kleinen Sektor begrenzt“, betonte Altbundespräsident Joachim Gauck in einem Interview unserer Redaktion.
Der Eingriff in die körperliche Unversehrtheit sei dabei im Verhältnis zu seinem Nutzen eher gering, sagte Gauck, der Einschränkungen der persönlichen Freiheiten in Deutschland eigentlich sehr kritisch seht. Wörtlich sagte er nun: „Ich glaube, dass viele Menschen die Impfpflicht akzeptieren würden – manche zähneknirschend, aber nach dem Motto, wenn es schon eine Pflicht ist, dann kommen wir der auch nach.“
"Unsere Rechtsordnung stürzt nicht ein"
Für eine Impfpflicht gebe es gute moralische, sachliche, politische und sogar juristische Gründe. „Deswegen stürzt unsere Rechtsordnung nicht ein.“ Die Freiheit werde jedenfalls nicht mit kruden Parolen auf der Straße verteidigt, „sondern in Arztpraxen und Impfzentren“.
Anders als der Altbundespräsident hält der CSU-Gesundheitsexperte Stephan Pilsinger die allgemeine Impfpflicht für zu weitgehend. Der Abgeordnete aus München spricht sich dafür aus, die Pflicht zur Immunisierung gegen das Corona-Virus nur für Menschen ab 50 Jahren einzuführen, wie es Griechenland bereits getan hat. „Aktuelle Zahlen zeigen, dass über 80 Prozent aller intensivpflichtigen Covid-Patienten über 50 Jahre alt sind“, sagte Pilsinger unserer Redaktion. „Dadurch könnten die Intensivstationen signifikant entlastet werden und so wenig wie möglich Menschen in ihrer Freiheit und Eigenverantwortung eingeschränkt werden.“ Der 34-Jährige ist selbst Arzt und praktiziert nach wie vor neben seiner Tätigkeit als Parlamentarier.
CSU-Gesundheitsexperte Pilsinger: Impfpflicht muss verhältnismäßig sein
Eine Impfpflicht sei ohne Frage ein erheblicher Eingriff in die körperliche Unversehrtheit, weshalb sie verhältnismäßig sein müsse. Dennoch sieht Pilsinger Handlungsbedarf, weil zum Beispiel Geimpfte Gefahr laufen, nach einem Unfall oder für eine wichtige Operation kein Intensivbett mehr zu erhalten, weil diese durch ungeimpfte Corona-Patienten belegt sind.
Quer durch alle Parteien hat sich die Meinung zur Impfpflicht gedreht. Anderthalb Jahre wurde sie von den Spitzenpolitikern ausgeschlossen, doch wegen der Kraft der vierten Welle und der Aussicht, eine fünfte oder sechste Welle durchmachen zu müssen, hat sich die Haltung geändert. Bundeskanzler Olaf Scholz wirbt seit kurzem dafür, genau wie Gesundheitsminister Karl Lauterbach (beide SPD). Aber auch die Ministerpräsidenten Markus Söder (CSU, Bayern) und Winfried Kretschmann (Grüne, Baden-Württemberg) halten ihre Einführung für nötig. „Das Impfen ist der Moses, der uns aus der Lage herausführt“, hatte Kretschmann zu einem biblischen Vergleich gegriffen.
Laut den Daten des Bundesgesundheitsministeriums sind in Deutschland immer noch 22 Millionen Menschen nicht gegen das Corona-Virus geimpft. Die Gruppe besteht nicht nur aus Erwachsenen, sondern schließt Kinder und Jugendliche ab zwölf Jahren ein. Bereits beschlossen ist die „kleine Impfpflicht“ für den Gesundheitssektor und die Betreuung Behinderter.
Ab Mitte März müssen Beschäftigte von Krankenhäusern, Praxen, Pflegediensten und Behindertenwerkstätten nachweisen, dass sie geimpft oder genesen sind. Anfang nächsten Jahres soll der Bundestag dann über eine Ausweitung auf jedermann diskutieren. Für die aktuelle Welle und die befürchtete Verschärfung durch die Omikron-Mutation käme die Impfpflicht ohnehin zu spät.