Wir erleben gerade durch Corona einen Stillstand unserer Wirtschaft und Gesellschaft. Wird die gesundheitliche Krise zur wirtschaftlichen und damit gesellschaftlichen?
Sigmar Gabriel: Wenn das Virus sich unkontrolliert ausbreiten würde, wäre jedenfalls die wirtschaftliche und gesellschaftliche Krise weit größer. Aber Sie haben natürlich recht: Die wirtschaftlichen und sozialen Schäden, die wir weltweit als Folge des Stillstands erleben, sind weit heftiger als bei früheren Krisen. Die Corona-Krise ist eben nicht nur in einigen Regionen der Welt, sondern überall. Und sie trifft nicht einzelne Sektoren der Wirtschaft, sondern alle. Das macht die Dramatik aus.
Viele Menschen fragen sich, ob die Stilllegung eines ganzen Landes wirklich alternativlos sei. Sie auch?
Gabriel: Nein. Wer so tut, als ob es ernsthafte Alternativen zur Beschränkung der sozialen Kontakte geben könnte, der muss doch nur die weltweiten Erfahrungen betrachten: Dort, wo früh und massenhaft getestet wurde, schnell die Kreisläufe unterbrochen wurden und jedem Einzelfall nachgegangen wurde, ist man gerade dabei, wieder aus dem Krisenmodus herauszukommen. Das Beispiel dafür ist Südkorea. Das Gegenbeispiel sind die USA und auch Großbritannien. In den USA wurde die Krise lange Zeit ignoriert und wir sehen die Tragödien in New York. In Großbritannien ist auch erst die Idee der „Herdenimmunisierung“ verfolgt worden, was zu einer massenhaften Ausbreitung der Erkrankung und Überforderung des Gesundheitssystems zu werden drohte. Dort hat man eine Kehrtwende vollzogen. Wer jetzt zu schnell zur Normalität zurück will, wird eine zweite Welle der Erkrankungen provozieren und noch weitaus größere Tragödien, wirtschaftliche Schäden und soziale Auswirkungen. Wir haben jetzt mal gerade etwas mehr als eine Woche hinter uns und liegen ungefähr zwei Wochen hinter Italien. Den Höhepunkt der Krise haben wir also noch gar nicht erreicht. Jetzt heißt es standhalten und nicht schon wieder wie die Hasen durcheinanderlaufen.
Auch der Chef der Arbeitsorganisation OECD warnte gerade, die drohende Beschäftigungskrise nach Corona sei vermutlich die noch größere Herausforderung.
Gabriel: Damit hat er zweifellos recht. Aber er will doch damit nicht ausdrücken, dass man jetzt naiv und schnell alle getroffenen Maßnahmen zur Eindämmung des Virus zurücknehmen sollte.
Die Bundesregierung will viele Milliarden Euro Nothilfe bereitstellen, aber gerade Mittelständler tun sich schwer, an Hilfen zu kommen. Woran liegt das und was kann besser werden?
Gabriel: Einerseits liegt es gewiss an der ungeheuren Zahl von Anträgen, die ja irgendjemand bearbeiten muss. Vor allem in den Hausbanken. Es ist gut, dass danach dann keine zweite Prüfung bei der bundeseigenen KfW Bank mehr erfolgt, wie sonst üblich. Das Kernproblem aber ist, dass wir ja derzeit Kredite und Bürgschaften für die Unternehmen bewilligen – also letztlich die Unternehmen höhere Schulden machen können, um durch die Krise zu kommen. Ich fürchte, das hilft vielen Unternehmen nicht, weil sie nicht wissen, wie sie die neuen Schulden zurückzahlen sollen. Möglicherweise werden wir auch so etwas wie einen Altschulden-Tilgungsfonds brauchen, mit dem der Staat einen Teil dieser neuen Belastungen den Unternehmen abnimmt. Keine einfache Operation, aber besser, als wenn uns die Unternehmen alle umfallen.
Wie ließen sich Schutz vor Viren und Wirtschaftsschutz verbinden? Sollte man bald etwa bereits infizierte und geheilte Menschen wieder arbeiten gehen lassen oder doch besonders bedrohte Gruppen isolieren?
Gabriel: Zum Einen wissen wir ja nicht, wer infiziert ist und wer nicht. Denn offenbar gibt es ja weit mehr Infizierte, als wir offiziell kennen. Und ich weiß auch nicht, ob wir hier quasi zurück ins Mittelalter gehen wollen, wo Menschen mit bestimmten Krankheiten, gegen die es noch kein Mittel hab, einfach vom öffentlichen Leben ausgeschlossen wurden.
In Italien, das von Corona besonders stark betroffen ist, wird das öffentliche Leben wohl noch lange nicht zur Normalität zurückkehren.
Gabriel: Dass die EU-Mitgliedsstaaten nicht einmal Italien und Spanien wirtschaftlich zur Seite springen wollen, ist eine Schande. Wir Deutschen verdienen an Europa mehr als alle anderen. Selbst an der Griechenlandkrise haben wir verdient. Warum stellen wir nicht 10 Prozent der jetzt im Bundestag bewilligten Hilfsmittel auch für Italien und Spanien zur Verfügung? Deutschland kippt nicht gleich um, wenn wir statt 150 Milliarden neuer Schulden 165 Milliarden aufnehmen und 15 davon unseren beiden Nachbarn anbieten. Die Italiener und Spanier würden uns das 100 Jahre lang nicht vergessen! Wenn wir allerdings nichts tun, werden sie sich das genauso lange merken.
Wie verhindern wir, dass China (wo das Virus ausbrach) etwa durch Übernahmen nun notleidender deutscher Unternehmen Corona-Profiteur wird? Brauchen wir deutlich schärfere Regeln gegen ausländische Übernahmen?
Gabriel: Ja, aber nicht nur gegenüber China. Ich möchte auch nicht, dass andere Staaten unsere jungen Bio-Tech Unternehmen übernehmen, die vielleicht gerade Medikamente und Impfstoffe gegen das Coronavirus entwickeln.
Müssen wir nach Corona auch die Globalisierung teilweise zurückdrehen und unabhängiger von China werden?
Gabriel: Die Wahrheit ist doch, dass wir ungeheuer viel Geld mit unserem Warenaustausch mit China verdient haben. China ist eben beides: Partner und Konkurrent zugleich. Eine Art „Frenemy“ („friend“ und „enemy“). Insgesamt aber wird die derzeitige Krise sicher etwas beschleunigen, was wir durch die Digitalisierung bereits erleben: Die Auslagerung von Produktionsstätten in sogenannte „Billiglohn-Länder“ wird abnehmen, denn die Lohnkosten sind für vieles nicht mehr ausschlaggebend. Trotzdem werden wir auch nach der Corona-Krise viele unserer Rohstoffe und Vorprodukte aus anderen Ländern beziehen und unsere Unternehmen werden auch in Zukunft den wachsenden Märkten folgen. Und die liegen nicht in erster Linie in Europa.
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