Inzidenz, Hospitalisierung, R-Wert: Alle Parameter deuten derzeit auf einen ruhigeren Corona-Winter hin. Können wir in diesem Jahr unbeschwert den Advent genießen, auf Weihnachtsmärkte und Weihnachtsfeiern gehen?
Hendrik Streeck: Wir befinden uns gerade in einer schwer greifbaren Übergangsphase von einer Pandemie zur Endemie. Und da sollte man auf der einen Seite achtsam sein und rücksichtsvoll miteinander umgehen. Aber: Wir haben so viel erreicht in den letzten drei Jahren, dass wir in meinen Augen getrost auf Weihnachtsfeiern und Weihnachtsmärkte gehen können.
Was genau meinen Sie mit „achtsam und rücksichtsvoll miteinander umgehen“?
Streeck: Um es klar zu sagen: Wenn man sich krank fühlt, ist es geboten, zu Hause zu bleiben. Und wenn es einem nicht gut geht und man trotzdem einkaufen gehen muss, dann sollte man das mit Maske machen. Unser Verhalten danach richten, wie wir uns fühlen und uns so verhalten, wie wir es von unseren Mitmenschen gerne haben – auch ohne, dass alles gesetzlich bestimmt ist, das ist das Gebot der Stunde. Es wäre schön, wenn wir auf diese Weise zu einer anderen Umgangskultur kämen.
Derzeit sind viele Arztpraxen voll mit Patienten, die über Atemwegserkrankungen klagen, aber kein Corona haben. Spielt dabei eine Rolle, dass wir nun zwei Jahre Maske getragen und uns keine Infekte geholt haben – und diese Viren jetzt unser Immunsystem quasi unvorbereitet treffen?
Streeck: Inwieweit Masken eine Rolle spielen, kann ich nicht sagen, aber dass es Erkältungswellen gibt, ist nichts Ungewöhnliches. Wir verzeichnen gerade eine ungewohnt frühe und starke Grippewelle – übrigens auch in den USA. Gleichzeitig nehmen die RSV-Infektionen bei Kindern wieder zu. Woran das liegt, das kann man nicht sicher sagen. Unterschätzen sollte man die Grippe aber nicht. Denn auch sie kann einen schweren Verlauf nehmen und zur Hospitalisierung führen. Umso wichtiger ist es, vorsichtig zu sein: Wer sich krank fühlt, obwohl der Corona-Test negativ ist, sollte daran denken, dass es auch andere Viren sein können, und besser zu Hause bleiben.
Sie sagten, dass wir uns gerade in der Übergangsphase von der Pandemie zur Endemie befinden. Stiko-Chef Mertens hat schon das Ende der Pandemie ausgerufen – was von manchen so interpretiert wurde, als seien wir übern Berg. Ist das nicht eine gefährliche Debatte?
Streeck: Die Problematik liegt tatsächlich in der Definition der Endemie, die auf dieses Virus streng genommen nicht gut anwendbar ist. Denn wir sprechen bei einer Endemie von einer relativ konstanten Erkrankungszahl als mathematischer Größe – und bei Corona sehen wir, dass der Anteil der Menschen, die sich infizieren, durch die Immunität nicht davor gefeit ist, sich wieder zu infizieren. Auch wenn wir das gerne hätten, kann man weder sagen, die Pandemie ist ab heute vorbei, noch sagen, die Endemie ist bereits eingetreten. Für beides gibt es genügend Argumente.
Statt einer konstanten oder sinkenden Erkrankungszahl sehen wir in den RKI-Statistiken der letzten Monate Wellen mit massiven Ausschlägen nach unten und oben. Überrascht Sie das?
Streeck: Ich habe bereits am Anfang der Pandemie gesagt, dass wir uns an eine Dauerwelle gewöhnen müssen mit immer wieder hoch- und runtergehenden Infektionszahlen. Ungewöhnlich war allerdings der Ausschlag nach oben in diesem Sommer. Da haben wir täglich 300.000 Neuinfektionen gemessen – mit um das Zehnfache als Dunkelziffer. Wir hatten also jeden Tag Infektionszahlen in Millionenhöhe. Und trotzdem hatten wir keine übermäßige Belastung des Gesundheitssystems.
Können wir daraus etwas über die Mutation des Virus ableiten? Der Bundesgesundheitsminister warnte ja noch Ende Juli vor einer drohenden „Killervariante“.
Streeck: Es gab und gibt deutliche Anzeichen für neue Virusvarianten – man kann sogar von einer „Variantensuppe“ sprechen, in der wir derzeit schwimmen. Das heißt: Es gibt um uns herum eine Mischsituation von vielen verschiedenen Virusvarianten. Und die deuten alle darauf hin, dass es zu einer sogenannten Immunflucht kommt. Das bedeutet wiederum, dass sich auch kürzlich Geimpfte oder Genesene eher auch wieder infizieren könnten. Killervarianten sind dies alle nicht.
Heißt das, dass die Impfung nicht mehr wirkt und wir dem Virus wieder schutzlos ausgeliefert sind?
Streeck: Nein. Wir erleben ja gerade, dass sich die Menschen leichter infizieren, aber es dadurch nicht zu schweren Verläufen kommt. Erklärbar ist das so: Ob BQ.1.1., XBB oder BA.2.75.2 – alle Varianten, die sich nun durchsetzen könnten, zeigen Mutationen an der Oberfläche des Virus am Spike-Protein. Das kommt daher, dass Millionen von Immunsystemen weltweit auf dieses Virus ballern – und zwar am häufigsten an dieser einen Stelle an der Oberfläche. Das Virus versucht, dem zu entgehen, und es entstehen Immunfluchtvarianten. Auch wenn wir eine „Variantensuppe“ haben, scheinen die sich alle in die gleiche Richtung zu bewegen. Wir sprechen da von einer „konvergenten Evolution“. Und alle schlüpfen an dieser einen Stelle unter dem Immunsystem hindurch und infizieren die Menschen. Für die Zukunft bedeutet das aber weder, dass die nächsten Varianten krankmachender sind als die aktuellen, noch, dass unsere Immunität komplett aufgehoben ist. Der Schutz vor einem schweren Verlauf bleibt gut!
Inzwischen haben 95 Prozent der Bevölkerung Antikörper gegen das Coronavirus, sind also moderat bis gut geschützt. Das jedenfalls ist das Ergebnis Ihrer neuesten Studie. Wie kommen Sie auf diese riesige Zahl?
Streeck: An dieser „Immunebridge“-Studie ist eine große Gruppe von Instituten und Universitäten beteiligt gewesen. Wir haben eine repräsentative Stichprobe der Bevölkerung gezogen und dabei auf viele vorhandene Daten zurückgegriffen, aber auch Personen kontaktiert und Sets zur Blutabnahme zugeschickt. Übrigens haben über 80 Prozent der Bürger geantwortet, was für solche Studien ungewöhnlich hoch ist. Das zeigt, dass die Bürger bereit zur Mitarbeit sind und wissen wollen, wie hoch die Immunität ist.
Von wie vielen Menschen haben Sie Daten ausgewertet?
Streeck: Am Ende hatten wir eine repräsentative Stichprobe der Bevölkerung von über 25.000 Personen und dies mit Einwohnermeldeamt-Stichproben abgeglichen. Und bei denen haben wir bestimmt, wie hoch die Zahl der Antikörper ist. So kamen wir auf 95 Prozent. Aber die Studie hat noch viel mehr zutage gefördert. Wir haben auch geschaut, wie viele Menschen Antikörper gegen das „N-Antigen“ haben. Das sind Antikörper gegen innere Teile des Virus, die nur jemand entwickelt, wenn er eine Infektion durchgemacht hat. Diese verschwinden aber nach einiger Zeit wieder und sind nicht mehr nachweisbar. So konnten wir zeigen, dass fast 50 Prozent der Bundesbürger in den letzten Monaten eine Corona-Infektion hatten.
Wofür sind diese Daten wichtig – können Sie damit Entwarnung geben?
Streeck: Wissenschaftler reden nicht gerne in solchen Kategorien. Die Zahlen sagen ja auch nichts über die Wahrscheinlichkeit einer Reinfektion aus. Aber sie sind in meinen Augen eine gute Nachricht, denn mit vorhandenen Antikörpern sinkt das Risiko, einen schweren Verlauf durchzumachen. Zugleich zeigen uns die Daten, wo in der Gesellschaft es noch Immunitätslücken gibt, wo man vielleicht gegensteuern sollte, um auch künftig nicht in eine Situation der Überbelastung des Gesundheitswesens zu kommen.
Wo sehen Sie diese Lücken?
Streeck: Zum Beispiel bei bestimmten Risikogruppen, wo es entgegen der Stiko-Empfehlung noch Vorbehalte gegen die dritte oder vierte Impfung gibt. Diese Lücken gibt es bei den über 60-Jährigen, aber auch bei Menschen mit anderen Risikofaktoren, zum Beispiel Herz-Kreislauf-Erkrankungen.
Sollte man die Menschen, die sich nicht impfen lassen wollen, nicht endlich in Ruhe lassen mit dem Thema? Überzeugen lassen werden sie sich sowieso nicht.
Streeck: Ich war nie ein Fan einer Impfpflicht. Und als Arzt ist es für mich sekundär, wie sich ein Mensch seine Antikörper holt. Lieber ist mir zwar die Impfung, aber auch eine Immunisierung über eine Infektion ist ein Schutz. Ich denke, wir sollten die Menschen dort, wo wir eine Impflücke sehen, ermutigen, es sich noch einmal zu überlegen. Aber wir sollten niemanden bedrängen oder Druck ausüben.
Inzwischen gibt es neue Impfstoffe, die an Omikron und neue Varianten angepasst sind. Welche Erfahrungen gibt es damit?
Streeck: Die Studien, die bisher dazu veröffentlicht wurden, zeigen, dass die Booster-Impfung wirkt, aber der Effekt durch die Anpassung des Impfstoffes nicht so groß ist wie erhofft. Das bedeutet: Es ist nicht so wichtig, mit welchem Impfstoff man boostert, wir kriegen keine weitere Verbesserung des Schutzes für die Allgemeinbevölkerung derzeit hin. Und wir sehen auch, dass durch die Booster-Impfung die Länge des Schutzes vor einer Reinfektion nicht sonderlich verbessert wird.
Wo spielt sich das Infektionsgeschehen eigentlich derzeit schwerpunktmäßig ab?
Streeck: Auch da gibt es keine guten Daten. Wir haben ein sehr diffuses Infektionsgeschehen mit einer Dunkelziffer, die um das Dreifache höher ist als die offiziellen Zahlen. Wir wissen, dass sich viel im Privaten abspielt – und dass es immer mal zu lokalen Ausbrüchen im Zusammenhang mit Volksfesten kommt. Was bedeutet, wenn Menschen auf engem Raum zusammenkommen, gehen die Zahlen nach oben. Und dann auch wieder nach unten, wie man sehr schön am Oktoberfest gesehen hat.
Zu feiern, Bier zu trinken und „Layla“ zu grölen, ist eben für viele mit Maske im Gesicht keine Option.
Streeck: Das ist genau das Problem: Alle Laborstudien haben deutlich gezeigt, dass die Maske zur Reduktion des Infektionsgeschehens beitragen kann. Nur hat die Maske einen Nachteil, der häufig nicht bedacht wird: Sie muss dort getragen werden, wo ein hohes Infektionsgeschehen stattfindet. Das klingt banal, doch leider wird die Maske eben nicht dort getragen, wo Infektionsgeschehen stattfindet.
Zum Beispiel auf der Wiesn – oder zu Hause bei einem netten Abend mit Freunden.
Streeck: Wir wissen, dass rund 70 Prozent der Infektionen im Privaten stattfinden. Das ist nicht die Übertragung in der U-Bahn oder im Fernzug, sodass dort die Maskenpflicht einen relativ geringen Effekt auf das Infektionsgeschehen hat. Man kann ja die Menschen durchaus ermutigen, dort Maske zu tragen, aber bitte nicht dazu verpflichten. Vielmehr sollte man Leuten, die sich selbst schützen wollen, beibringen, wie man Maske richtig trägt und an welchen Orten die Übertragungen stattfinden.
Vor ein paar Wochen sorgten Meldungen des Statistischen Bundesamts für Schlagzeilen, wonach Anfang Oktober die Sterberate für dieses Jahr in Deutschland 20 Prozent über dem Mittel der Jahre 2018 bis 2021 lag. Sehen Sie einen wie auch immer gearteten Zusammenhang mit Corona?
Streeck: Das ganze Thema ist viel komplexer, als es derzeit dargestellt wird. Ich halte generell nicht viel davon, die Sterblichkeit eines punktuellen Zeitraums mit dem von einem Vorjahr zu vergleichen, denn da kommen ganz viele Faktoren zusammen. Ein wichtiger Faktor ist zum Beispiel unsere Bevölkerungspyramide, die ja eine Pilzform angenommen hat. Wir haben eine überalterte Bevölkerung – und wir werden in den kommenden Jahren dauerhaft die Situation haben, dass es eine Übersterblichkeit gegenüber dem Vorjahr gibt. Das ist unserer Altersstruktur geschuldet.
Bayern und Baden-Württemberg haben als erste Bundesländer die Isolationspflicht für Corona-Infizierte gekippt. Ist die Entscheidung richtig?
Streeck: Die Isolationsverpflichtung ist eines der schärfsten Schwerter des Gesundheitswesens, um Ausbrüche einzudämmen. Das ist am Anfang einer Infektionswelle sinnvoll. Wir sind nun allerdings in einer Phase, in der nur ein Bruchteil der Infektionen erkannt wird und dementsprechend auch nur ein kleiner Teil der Infizierten isoliert wird. Da muss man konstatieren, dass die Isolationsverpflichtung ein zahnloser Tiger geworden ist. Mit der Isolationspflicht schafft man bei der hohen Dunkelziffer nicht, das Infektionsgeschehen einzudämmen. Wir sollten davon Abstand nehmen und zu einem Isolationsgebot übergehen. Wer sich krank fühlt, sollte zu Hause bleiben. In vielen Ländern wurde die Isolationspflicht bereits aufgehoben – zum Beispiel in Österreich. Dennoch ist es dort nicht zu einem Anstieg der Infektionszahlen gekommen. Als Alternative zur Aufhebung der Isolationspflicht sind auch „Mischformen“ denkbar. Zum Beispiel, dass jemand, der positiv getestet wurde und sich nicht krank fühlt, bis zum negativen Testergebnis FFP2-Maske am Arbeitsplatz oder beim Einkaufen trägt.