Wer von Linda wissen möchte, wie sich ihre Heimat in den letzten Jahren gewandelt hat, der vernimmt zunächst ein lautes Seufzen. Viel gäbe es da zu erzählen, sagt die alleinerziehende Mutter aus Wuhan. „Das Schlimmste ist jedoch, dass wir über das meiste zunehmend stumm bleiben müssen – sogar zu Hause in der Familie“, sagt Linda, deren eigentlicher Name hier nicht vorkommen soll. Denn ihre Tochter, die mittlerweile in die Grundschule geht, könne sich versehentlich vor den Lehrern verplappern. So tief greift die Selbstzensur mittlerweile für die Chinesin aus Wuhan.
An diesem feuchtkühlen Januarnachmittag sitzt die 38-Jährige – mit Strickmütze und schwarzer Daunenjacke – in einer Starbucks-Filiale, die Fensterfront gibt den Blick frei auf ein Einkaufszentrum im „europäischen“ Stil: In einer gotischen Kathedrale wird gerade ein Huawei-Flagship-Store aufgebaut, hinter venezianischen Häuserfassaden befinden sich Hotpot-Restaurants, in denen man die chinesische Form des Fondues bekommt. Wenig erinnert in der zentralchinesischen Provinzhauptstadt noch daran, dass hier vor ziemlich genau zwei Jahren der weltweit erste Corona-Lockdown verhängt wurde: 76 Tage lang durften mehr als sechs Millionen Menschen in Wuhan ihre Häuser nicht verlassen.
Kaum ein Land hat sich so verändert wie China
Für jeden dieser Menschen ist die Zeit von damals mehr als eine bloße Statistik oder historische Fußnote. Linda etwa weiß von einer verzweifelten Freundin zu berichten, die in jenen Tagen für ihr Neugeborenes kein Milchpulver mehr auftreiben konnte.
Es gibt wenige Länder, die sich in den vergangenen zwei Jahren so fundamental verändert haben wie China. Kaum ein Staat hat das Virus derart erfolgreich bekämpft wie die Volksrepublik, doch auch kaum eine Gesellschaft hat im Zuge der Null-Covid-Strategie ihren Blick so radikal nach innen gekehrt. Das wird jetzt zum Problem: Denn auch der neuen Omikron-Variante des Virus begegnet China mit knallharten Restriktionen. Und was eine Weltmacht wie China tut, bleibt für die übrigen Länder der Welt nicht ohne Auswirkungen.
Ja, China hat die Pandemie derzeit besser im Griff als viele andere Nationen. Zwar ist die Omikron-Variante schon nachgewiesen, unter anderem in Peking, wo Anfang Februar die Olympischen Winterspiele beginnen. Aber die Zahl aller täglichen Neuinfektionen bewegte sich insgesamt zuletzt im niedrigen dreistelligen Bereich. Nur: Um einer weiteren Ausbreitung vorzubeugen, greift China schon jetzt heftig durch.
Flugverbindungen – auch nach Deutschland – haben die Behörden radikal zusammengestrichen. Moderatorinnen und Moderatoren im Staatsfernsehen fordern Menschen wie Linda auf, im Internet keine Waren aus Hochrisikogebieten im Ausland zu bestellen – und sie, wenn überhaupt, im Freien mit Maske und Handschuhen zu öffnen. Hintergrund: In Peking macht eine Nachricht die Runde, wonach sich eine Frau durch eine Paketsendung aus Kanada mit der Omikron- Variante angesteckt habe.
China will seiner Bevölkerung klarmachen: Die Gefahr droht aus dem Ausland. Schwierig nur: Aus dem Ausland kommen gerade tausende Sportlerinnen und Sportler, Betreuer und Funktionäre für die Olympischen Spiele ins Land. Nach Angaben der Organisatoren wurden seit Anfang Januar mehr als 70 Menschen aus der „Olympia-Blase“ positiv getestet. Auch deshalb sollen die Spiele in Peking strengstens abgeschottet stattfinden, für alle Beteiligten ist ein täglicher PCR-Test Pflicht.
IWF bittet China um einen Kurswechsel in der Corona-Krise
In Deutschland schaut man besorgt auf China und seine Null-Covid-Strategie, vor allem aus wirtschaftlicher Sicht. Lisandra Flach, Leiterin des Ifo-Zentrums für Außenwirtschaft in München, analysiert die Lage so: China reagiere aktuell mit strikten Maßnahmen wie Lockdowns sogar auf kleinere Corona-Ausbrüche. Deshalb könne man davon ausgehen, dass China bei einer weiteren Ausbreitung „recht schnell“ herunterfahren werde. Und das heißt: „Eine mögliche Ausbreitung von Omikron und eine geringere wirtschaftliche Dynamik in China können weitreichende Auswirkungen auf die deutsche Wirtschaft haben.“
Der Internationale Währungsfonds hat China kürzlich um einen Kurswechsel gebeten. Die sehr harten Einschränkungen der Null-Covid-Methode – zum Beispiel die Abschottung ganzer Millionenstädte – erwiesen sich zunehmend als Belastung für die Wirtschaft vor Ort und weltweit, hieß es.
Kürzlich erst war es wieder so weit. Einen Monat lang stand die Stadt Xi’an mit ihren 13 Millionen Bewohnerinnen und Bewohnern unter einem Komplett-Lockdown. Erst am vergangenen Montag wurde er aufgehoben. Nach Angaben der Stadtverwaltung wurde der Status der alten Kaiserstadt in Zentralchina, die seit Dezember gut 2000 Infektionen erlebt hatte, wieder auf „niedriges Risiko“ heruntergestuft, Ausgangssperren wurden aufgehoben. Öffentliche Verkehrsmittel und Taxis konnten ihren Betrieb wieder aufnehmen. Auch dürfen die Bewohnerinnen und Bewohner wieder normal reisen, müssen aber mit der Corona-App nachweisen, dass sie gesund sind.
Die chinesische Bevölkerung bleibt diszipliniert
Der epidemiologische Erfolg der Volksrepublik zeugt auch vom stoischen Pragmatismus der Bevölkerung, die zu großen Teilen trotz extrem niedriger Infektionszahlen nach wie vor Masken trägt und auf unnötige Reisen verzichtet. Doch die übertriebene Vorsicht hat auch mit einem sozialen Stigma zu tun: Denn die Angst vor dem Virus hat unlängst geradezu psychotische Züge angenommen. Jede Infektion kann schließlich zur Abriegelung ganzer Nachbarschaften führen. In einem solchen Klima möchte niemand dafür verantwortlich sein.
Die Pandemie hat erstaunlicherweise das Verhältnis der meisten Bürgerinnen und Bürger zu ihrer Regierung gestärkt: Sie sind dankbar dafür, dass sie aufgrund der effizienten Maßnahmen in der jüngsten Welle ihren Alltag ohne große Einschränkungen führen können. In den Fernsehbildern der Propagandamedien wird täglich aufs Neue betont, dass dies im Westen nicht der Fall ist: Gesellschaftliches Chaos in den USA, Rekord-Infektionen in Großbritannien und weitere Hiobsbotschaften bestimmen die Abendnachrichten.
Im Landesinneren hingegen ist der Wille zum Vergessen beachtlich: In den Fernsehwerbungen, auf öffentlichen Plakaten in Wuhan und in Museumsausstellungen haben die Autoritäten den Kampf gegen das Virus längst zu einer Heldengeschichte verklärt. Doch für Außenstehende noch bemerkenswerter ist, dass die Amnesie keineswegs nur von der staatlichen Zensur verordnet, sondern von den Menschen durchaus willkommen geheißen wird. Nach dem Motto: Wieso mit der schmerzlichen Vergangenheit beschäftigen, wenn der Blick nach vorn eine bessere Zukunft verheißt? Die Frage ist nur: Ist die Zukunft wirklich so verheißungsvoll?
Die größte Angst: dass Omikron sich durchsetzt
Chinas Corona-Strategie ist mit nachhaltigen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Folgekosten versehen, die wohl erst in den kommenden Jahren in vollem Ausmaß offen zutage treten werden. Das gegenseitige Verständnis zwischen dem Reich der Mitte und dem Westen ist im Zuge der radikalen Abschottung des Landes geradezu erodiert: Eine ganze Generation chinesischer Austauschstudenten sucht nun ihre berufliche Zukunft in der Heimat; etliche Forschende, Journalistinnen und Journalisten erhalten keine Einreise-Visa – genauso wie sogenannte Expats, also Fachkräfte, die von ihren Unternehmen für eine bestimmte Zeit nach Asien entsandt werden sollten. Und Staatschef Xi Jinping, der seit nun mehr einer Dekade das Land führt, hat seit knapp zweieinhalb Jahren weder die eigenen Grenzen verlassen noch einen ausländischen Staatschef offiziell empfangen.
Die größte Angst der Behörden: dass sich Omikron in China durchsetzt. Dann drohen nicht nur weitere Millionenstädte zu abgeschotteten Planeten zu werden, Menschen über Monate allein in ihren Wohnungen zu sitzen und Mütter vergeblich nach Milchpulver für ihre Babys zu suchen. Am größten wäre die wirtschaftliche Erschütterung – nicht nur für den Riesenstaat selbst. Was passiert, wenn sich Omikron in China ausbreiten sollte? Diese Frage stellen sich viele deutsche Unternehmen und Wirtschaftsvertreter. Die Auswirkungen wären wohl gravierend, sehr gravierend.
Klaus-Jürgen Gern, Experte für internationale Konjunktur am Kieler Institut für Weltwirtschaft (IfW), sagt unserer Redaktion: „Die strikte Zero-Covid-Strategie der chinesischen Regierung war schon 2021 ein wesentlicher Belastungsfaktor für das Wachstum Chinas. Weitere Corona-Ausbrüche können schnell dazu führen, dass es erneut Produktionsausfälle gibt und Häfen oder andere Lieferwege ausfallen, wie es schon mehrfach zu beobachten war.“ Die Folge: Es würden damit auch Waren für den Export fehlen oder sie können nicht transportiert werden. Gern gibt zudem zu bedenken: „Eine Änderung der Pandemiestrategie in China ist bislang nicht absehbar, zumal Chinas Impfstoffe als weniger wirksam gelten als die westlichen.“ Tatsächlich sind zwar 85 Prozent der Menschen in der Volksrepublik vollständig geimpft, doch die von China selbst entwickelten Impfstoffe Sinovac und Sinopharm schützen ersten Studien zufolge deutlich weniger gegen Omikron als die europäischen. „Corona-Maßnahmen werden daher auch weiterhin die chinesische Wirtschaft und ihre außenwirtschaftlichen Beziehungen mit Deutschland und Europa belasten“, sagt Gern.
In Wuhan glitzern die Werbeplakate
Dazu gehört nach Einschätzung des Ökonomen auch, dass Einreisen nach China nach wie vor nur mit Sondererlaubnis und anschließender Quarantäne möglich seien. Und auch hier gilt: „Das bremst die Dynamik in der Geschäftsanbahnung oder in anderen Projekten mit China.“ Das IfW geht für seine Prognosen davon aus, dass der konjunkturelle Einfluss der Pandemie in China erst ab 2023 nachlässt. Und etwas anderes stimmt den Konjunktur-Experten bedenklich: „Die Auswertung von Schiffsbewegungen für unseren Kiel Trade Indicator deutet auf einen abermaligen Rückgang der Exporte aus China im Januar hin. Auf dem Roten Meer – der wichtigsten Schiffshandelsroute zwischen Europa und Asien – sind gegenwärtig 15 Prozent weniger Waren unterwegs, als unter normalen Umständen zu erwarten wären.“ So groß sei die Lücke zuletzt Mitte 2020 gewesen, als die Pandemie erstmals viele Länder in den Lockdown zwang. Gern warnt: „Ein eskalierender Omikron-Ausbruch in China und die Eindämmungsversuche der chinesischen Regierung dürften negative Folgen für Europa haben.“
In Wuhan sind solche Gedankenspiele weit weg. Die Werbung an den Hausfassaden glitzert, das Staatsfernsehen zeigt spielende Kinder, die sich auf die Olympischen Spiele freuen. Doch auch in der Stadt, in der alles begann, ist bei näherer Betrachtung längst nicht alles so normal, wie es den Anschein hat. „Unser Geschäft hat sich bis heute nie vollständig erholt“, sagt der Kellner einer örtlichen Kneipe, der mit seiner langen Haarmähne und der runden Nickelbrille ein wenig an John Lennon erinnert. Den ersten Sommer nach dem Lockdown seien die Leute in Strömen zum Biertrinken und Abhängen gekommen, sagt der Chinese während einer kurzen Raucherpause vor der Tür. Dann jedoch sei die Kundschaft wieder ausgeblieben. Wirklich zum Feiern sei gerade nur den wenigsten zumute.
Linda, die alleinerziehende Mutter aus Wuhan, sagt, sie führe einen Kampf gegen das Vergessen. „Die Medien können darüber nicht berichten, und auch ich werde immer öfter wie ein Spinner angeschaut, wenn ich über die Erinnerungen spreche.“ Aber sie lässt sich davon nicht abbringen. Und wenn sie nur von ihrer Freundin erzählt, die für ihr Baby kein Milchpulver fand. Oder davon, wie sie selbst mit ihrer Tochter allein zu Hause saß.