Der Osten ist ausgetickt, mal wieder. Bei der Wahl kürzlich hat er sein eigenes Klischee bestätigt: Dunkeldeutschland, wo Rechtsradikale den Ton angeben. Haben sich doch auf der politischen Karte beispielsweise Teile Thüringens und Sachsens AfD-blau gefärbt. Immerhin 14 Direktmandate hat die Partei in den beiden Freistaaten erobert. Dunkeldeutschland, wo die Menschen keine Fremden wollen. Dunkeldeutschland, wo es jetzt endlich für alle Arbeit gibt und dennoch der Frust gärt.
Aber ist es wirklich so finster in diesem Teil Deutschlands, der im Osten liegt? Ja und nein. Auf der westdeutschen Finsternis-Skala liegt meine Heimatstadt Zwickau ziemlich weit oben. Die Mörderbande des Nationalsozialistischen Untergrundes (NSU) fand dort Unterschlupf und Helfer. Vor der Wahl löste die Neo-Nazi-Partei III. Weg in der gesamten Republik Abscheu aus, weil sie in der Stadt auf Wahlplakaten „Hängt die Grünen“ hatte drucken lassen.
Die Aufregung hat sich dann aber wenige Tage nach der Wahl gelegt. Der beginnende Herbst färbt die ersten Blätter, der größte Sohn der Stadt blickt wie immer versonnen in die Ferne. Es ist der Komponist Robert Schumann, der als Denkmal auf dem Sockel am Rande des historischen Marktplatzes in der Altstadt sitzt. Sein bekanntestes Stück ist die „Träumerei“. Es sind melancholisch schwebende Töne, die so gar nicht zum rauen Ruf der Stadt passen.
Einen, den die Musik Schumanns bezaubert, ist Matthias Moosdorf. Der Cellist hat bei der Bundestagswahl das Direktmandat gewonnen.
Solocellist beim Leipziger Kammerorchester, Mitglied des Leipziger Streichquartetts und jetzt AfD-Bundestagsabgeordneter
Moosdorf ist ein Kulturmensch durch und durch, seit 2016 ist er bei der AfD und hat sich mit der damaligen Parteichefin Frauke Petry angefreundet. Er hat eine beeindruckende Musikerkarriere hinter sich. Solocellist beim Leipziger Kammerorchester, Mitglied des Leipziger Streichquartetts, das über hundert CDs einspielte und auf der ganzen Welt auftrat, Gastprofessuren und Lehraufträge an renommierten Musikhochschulen. „Ich könnte auch weiter Musik machen, aber wenn ich sehe, dass alles den Bach heruntergeht, dann will ich das ändern“, sagt der Neu-Politiker am Telefon zwischen Interviews und ersten Sitzungen der AfD-Fraktion.
Die gehen so turbulent weiter, wie die vor der Wahl. Es knallt schon wieder bei der Partei. Gleich in der ersten Sitzung steht ein Abgeordneter auf der Kippe, der engen Kontakt zur Dortmunder Neo-Nazi-Szene pflegte. Auch über Moosdorf wird diskutiert, er hatte in der Vergangenheit Kritisches über Partei-Grande Alexander Gauland gesagt. „Wissen Sie, die ganze Politik ist vulgär“, antwortet der AfD-Mann, wenn man ihn fragt, warum er in einer Partei mitmacht, die auch Faschisten in ihren Reihen duldet.
Moosdorf ist der personifizierte Bürgerliche. Der Ton angenehm freundlich, immer in Hemd und Sakko unterwegs, im Gespräch fällt ein Humboldt-Zitat. Wahlkampf machte er in einem alten Feuerwehrwagen, der Trude. Damit fuhr er über die Dörfer, die zum Land- und Wahlkreis gehören. Die Stadt hat zwar Schumann und mit dem Maler Max Pechstein ein weiteres Kunstgenie hervorgebracht, sie hat eine kleine, lebendige Kulturszene, aber sie ist vor allem Arbeiterstadt. Früher Steinkohle und Kokerei, aber seit über hundert Jahren und bis heute Autos. Horch, Audi, Trabi und jetzt Volkswagen.
Moosdorf holt 25,1 Prozent der Erststimmen und gewinnt das Direktmandat für die AfD
Der Künstler Moosdorf erzählt, dass er die Leute dennoch leicht erreicht hat. Er hat Berufsausbildung mit Abitur gemacht, was es nur im Osten gab. Er war bei der NVA teils in der Nähe von Zwickau eingesetzt. Er ist Leipziger, weshalb der schwere Dialekt der Zwickauer keine Barriere ist. Am Ende holt Moosdorf 25,1 Prozent der Erststimmen und schlägt damit den bisherigen Bundestagsabgeordneten Carsten Körber um knapp fünf Prozentpunkte.
Körber, das ist zu spüren, ist noch immer geschockt von dieser Niederlage. Seit acht Jahren vertritt er seine Zwickauer in Berlin, übernahm den Wahlkreis von seinem CDU-Vorgänger, der ihn direkt nach der Wende eroberte. „Die hätten einen Besenstiel aufstellen können und hätten gewonnen“, sagt er. Mit „die“ meint er die AfD. Körber kann es sich wenige Tage nach der Wahl noch immer nicht erklären. Dann zählt er in seinem Bundestagsbüro seine Erfolge auf.
Als Mitglied des Haushaltsausschusses gelang es ihm, viel Fördergeld in die Stadt und ihr Umland zu lotsen. Geld für den Tierpark, Geld für das Landwirtschaftsmuseum, Geld für die Burg Schönfels. Mehrere Millionen Euro. Der 42-Jährige ist ein anderer Typ als sein AfD-Konkurrent. Er stammt aus einem Dorf bei Zwickau, wo er noch heute wohnt. Er hat Politik- und Wirtschaftswissenschaft im nahen Chemnitz studiert und sich vor allem um Wirtschaftsförderung gekümmert. Denn darum ging es im Osten eigentlich immer – Unternehmen ansiedeln, die neue Arbeitsplätze schaffen.
„Oarbeid“, wie die Zwickauer sagen, war nach 1990 immer knapp. Eine Gesellschaft, die durch Protestantismus und Sozialismus die Arbeit vergöttert hatte, stieß ihr Fehlen in eine Sinnkrise. Doch seit einigen Jahren gibt es wieder so viel davon, dass es nicht genügend Hände gibt, sie zu erledigen. In allen Branchen werden Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gesucht. Der Verdienst ist nicht immer üppig. Ein Drittel der Beschäftigten arbeitet im Osten im Niedriglohnsektor. Doch in Zwickau zieht das große VW-Werk samt seiner Zulieferer das Lohnniveau nach oben. Ist Arbeit also gar nicht mehr das entscheidende Thema? Moosdorf will sich in Berlin nicht gesondert um Fördergelder und Wirtschaftsförderung für Zwickau bemühen. „Ich bin kein Mann für die Kommunalpolitik.“ Ihm geht es um das große Ganze. Er hält die Energiewende in Deutschland mit ihren enormen Strompreisen für gescheitert. Er will erreichen, dass die Deutschen wieder stolz sein können auf ihre Kultur, die der frisch gewählte Abgeordnete einem Generalverdacht ausgesetzt sieht.
Fragt man ihn, wie er das meint, dann erzählt er, dass zuletzt die Musikagenturen nicht mehr zufrieden gewesen seien, wenn sie Mozart oder Brahms einspielen wollten. Brahms sei schon schön, aber könne man nicht das Ganze irgendwie mit afrikanischen Trommlern und afghanischen Setar-Spielern zusammenbringen? Vor zwei Jahren ist Moosdorf aus dem Streichquartett ausgeschieden. Schon zuvor beginnt er damit, sich eine Kampagne gegen den UN-Migrationspakt auszudenken. Er spricht über Migranten als „völlig unberechenbare, unserer Kultur fremde Menschen“. Der Kulturmensch ist nicht nur bürgerlich, sondern bedient auch den Sound der Rechten.
So erklärt Wirtschaftsprofessor Stefan Kolev die Stärke der AfD im Osten
Um herauszufinden, ob den Zwickauern nun die Arbeit oder die eigene Kultur wichtiger ist, fragt man am besten Stefan Kolev. Er ist Bulgare, Deutscher und lebt seit zehn Jahren in Zwickau. Kolev ist Wirtschaftsprofessor an der örtlichen Westsächsischen Hochschule und hat selber für die FDP Wahlkampf gemacht. „Moosdorf war schlagbar“, sagt Kolev. Er kreidet dem CDU-Kandidaten Körber an, im Wahlkampf nicht richtig präsent gewesen zu sein. „Ich habe ihn in der Innenstadt nie gesehen.“ Kolev hat in Hamburg gelebt, bevor er nach Sachsen kam. Ironischerweise hat er einst bei AfD-Gründer Bernd Lucke eine Promotion begonnen.
Er erklärt sich den Erfolg der Partei damit, dass es heute im Osten zwar wieder Jobs gibt, aber das Gefühl des Gefährdetseins der Existenz und der drohende Ansehensverlust („Hartz-IV“) noch in den Herzen steckt. Die Flüchtlinge, die vor fünf Jahren nach Deutschland strömten, seien als Konkurrenten begriffen worden. „Über die Flüchtlinge reden die Leute in Zwickau und Sofia ähnlicher, als es die Leute in Hamburg tun“, erzählt der Ökonom. Er führt es darauf zurück, dass es nach 1990 im gesamten Ostblock die gleiche Entwicklung gegeben hat.
Wegen des Zusammenbruchs der Planwirtschaft sind die Jungen und gut Ausgebildeten abgewandert in den Westen, um sich ein anderes Leben aufzubauen. Die zu Hause bleiben, rücken zusammen und bilden ein Wir. Zwickau hatte 1990 knapp 120.000 Einwohner, heute sind es noch 87.000. „Dieses ,starke Wir‘ reagiert sehr empfindlich, wenn Brüssel oder Berlin Ansagen machen“, glaubt Kolev. Mit Ansagen meint er etwa, hunderttausende Flüchtlinge aufzunehmen, für die Energiewende Kohlekraftwerke abzustellen oder zur Bekämpfung des Coronavirus’ die Freiheiten massiv einzuschränken.
Der Professor lebt trotzdem gern in Sachsen. Als Bulgare habe er einen Bonus. Denn Bulgarien lieferte Rotwein in die DDR, den berüchtigten Schädelspalter Rosenthaler Kadarka. Wohl jeder ostdeutsche Weintrinker hat davon mal Kopfweh gehabt. Kolev will sie nicht verloren geben, jenes Viertel der Wähler, das jetzt in Zwickau und ganz Sachsen AfD gewählt hat. Aus 25 Prozent lassen sich 15 Prozent machen. „Das ist der Job der CDU“, sagt der Migrant, vor dem sich die Zwickauer nicht fürchten.
Der CDU-Liebling im Osten ist Friedrich Merz
CDU-Mann Körber kaut seit dem Wahlsonntag darauf herum, wie das glücken kann. Er hat es gerade noch über die Landesliste in den Bundestag geschafft. Alle nach ihm fielen hinten runter. Obwohl er verloren hat, ist er gleichzeitig ein Gewinner. Er ist der neue Chef der arg gerupften sächsischen Landesgruppe der CDU im Bundestag. Wieder so eine Ironie. Sein Vorgänger wurde von Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer abgesetzt. Er hatte den Ossis unterstellt, sie seien diktatursozialisiert, weshalb ein Teil das mit der Demokratie nicht begreife. Auf eine Nachricht schreibt er zurück, dass er jetzt erst einmal gar nichts sagt. Körber rechnet damit, dass seine CDU jetzt in die Opposition gehen muss, weil es mit Jamaika nichts wird.
Und Körber hofft darauf, dass die Union in vier Jahren einen schlagkräftigen Kandidaten aufstellt. „Laschet war der falsche Kandidat“, schießt es aus ihm heraus. Der Liebling der CDU-Mitglieder in Ostdeutschland heißt Friedrich Merz mit seinem klar konservativen Profil bei Zuwanderung (mehr Kontrolle), Klimapolitik (Strompreise beachten) und Wachstum (mehr). Der Doch-Wieder-Abgeordnete beklagt sich heftig über fehlende Unterstützung aus der CDU-Zentrale. „Der Wahlkampf war noch nie so schlecht.“
Und dann sagt Körber noch etwas, das im ersten Moment verstörend klingt, aber derzeit in Berlin häufiger zu hören ist bei Leuten, die sich mit Ostdeutschland beschäftigen. Sie gehen davon aus, dass sich die AfD weiter radikalisiert und dadurch im Westen unwählbar wird. „Lega Ost“ ist der Begriff dafür, angelehnt an die Lega Nord aus Italien. Wenn das passiert, dann könnte sie auch bei ihren Wählern zwischen Ostsee und Erzgebirge an Unterstützung verlieren, die sich dann angewidert abwenden. Ob diese Rechnung aufgeht, ist alles andere als sicher, und sie ist natürlich riskant. „Ich weiß, das klingt jetzt etwas hilflos“, gibt Körber zu. Er ist nicht der Einzige, dem das so geht. In allen Fraktionen – außer bei der AfD – wird sich diese Frage gestellt. Es ist die dritte, bittere Ironie, dass sich die AfD nur selbst verzwergen kann.