Am Tag nach der Bundestagswahl ist das demonstrative Selbstbewusstsein der Union, trotz des Rückstands zur SPD die nächste Bundesregierung anzuführen, einer erkennbaren Ernüchterung gewichen. Demut ist ein Wort, das an diesem Montag immer wieder zu hören ist – aber auch der Begriff der Erneuerung macht die Runde. CDU und CSU wollen aus dem für sie niederschmetternden Wählervotum ihre Lehren für die Ausrichtung der Partei ziehen, versicherten die Parteichefs Armin Laschet und Markus Söder nach den Sitzungen der jeweiligen Präsidien. Die Union werde Koalitionsgespräche anstreben, sehe aber, dass der klare Regierungsauftrag nicht bei ihr liege. Der Unmut in den Parteigremien ist groß. Es gebe keinen Grund, irgendetwas schönzureden, sagte CDU-Generalsekretär Paul Ziemiak. „Die Verluste sind bitter und sie tun weh.“ Die Analyse solle „brutal offen“ sein.
Natürlich wisse er, dass er auch einen persönlichen Anteil daran habe, sagte Kanzlerkandidat Laschet. Das Ergebnis werde intensiv aufgearbeitet werden. Egal, ob die Union in Regierungsverantwortung komme, es müsse eine Erneuerung auf allen Ebenen stattfinden. „Wir dürfen es nicht schönreden“, sagte Söder. Dazu gehört auch ein Blick auf die eigenen Wahlergebnisse: Die CSU hat eine historische Schlappe eingefahren. Mit 31,7 Prozent stürzt sie auf das schlechteste Ergebnis seit 1949 ab und verliert im Vergleich zur letzten Bundestagswahl 2017 sieben Prozentpunkte. Dennoch werden sich die Blicke zunächst auf Laschet richten. Die nächsten Tage werden zeigen, wie lange er sich noch in seinem Amt halten kann. Aus der zweiten Reihe werden bereits Rücktrittsforderungen laut.
Olaf Scholz versucht die FDP für sich zu gewinnen
Freuen dürfte das die SPD. Die will sich den Wahlsieg nicht auf Umwegen von der Union abnehmen lassen. Kanzlerkandidat Olaf Scholz bemüht sich intensiv um ein Bündnis mit FDP und Grünen. Die SPD möchte mit sechs Spitzenpolitikern aus Bund und Ländern in die Sondierungsgespräche gehen. Neben Scholz selbst sollen nicht nur die Parteichefs Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans am Verhandlungstisch sitzen, mitsondieren werden auch Generalsekretär Lars Klingbeil, Fraktionschef Rolf Mützenich und die Ministerpräsidentin von Rheinland-Pfalz, Malu Dreyer. Scholz versucht, ein mögliches Ampel-Bündnis zu schmieden und ihm den Anstrich des politischen Neubeginns zu verpassen. „Wenn drei Parteien, die den Fortschritt am Beginn der 20er Jahre im Blick haben, zusammenarbeiten, kann das etwas Gutes werden, selbst wenn sie dafür unterschiedliche Ausgangslagen haben“, betonte er.
Vor allem der FDP versucht er die Vorzüge eines Bündnisses mit der SPD schmackhaft zu machen. Die schwarz-gelbe Koalition 2009 bis 2013 sei ein „abschreckendes Beispiel“ gewesen. Die Liberalen würden sich erinnern, wie schlecht dies für sie gelaufen sei. Tatsächlich könnte Scholz’ Taktik aufgehen. Sowohl die Liberalen als auch die Grünen zeigen sich offen für Gespräche – Laschet haftet das Verlierer-Image an, die SPD hingegen kann sich über Wählerzuwachs freuen. „Der Stern über Jamaika verblasst gerade ein wenig“, sagt der Berliner Wahlforscher Thorsten Faas. Und in dem Fall könnte es vergleichsweise schnell gehen mit der Regierungsbildung. Die Sorge vieler politischer Beobachter war, dass Deutschland erneut eine monatelange Hängepartie bevorsteht.
Der Osten wählt anders als der Westen
Wie stark beide Volksparteien, Union und SPD, verloren haben, zeigt eine Aufschlüsselung des Meinungsforschungsinstitutes Forsa. Trotz der im Vergleich zur letzten Bundestagswahl 2017 etwas höheren Wahlbeteiligung ist die Zahl der Nichtwähler nach 2009 zum zweiten Mal bei einer Bundestagswahl größer als die Zahl der Wähler der Union oder der SPD: 24 Prozent aller Wahlberechtigten haben am Sonntag nicht gewählt beziehungsweise eine ungültige Stimme abgegeben. Weniger als 20 Prozent aller Wahlberechtigten (nicht der tatsächlichen Wähler) haben der CDU/CSU (18,3 Prozent) oder der SPD (19,5 Prozent) ihre Stimme gegeben.
Und noch etwas fällt mit Blick auf die Wahlergebnisse auf: Die Kluft zwischen den alten und neuen Ländern ist noch größer geworden. „So geht der Anteil der AfD im Westen des Landes deutlich zurück – so wie es auch bei früheren rechtsradikalen Bewegungen in der Vergangenheit zu beobachten war. Doch im Osten des Landes behauptet die AfD ihre starke Stellung“, analysiert Forsa-Chef Manfred Güllner. „Dies dürfte in erster Linie darauf zurückzuführen sein, dass sich die CDU in den neuen Ländern – anders als weite Teile der CDU in den alten Ländern und vor allem der CSU – nicht klar genug von der AfD abgrenzt.“