Gestresste Bundeskanzler, sorgenvolle Bundeskanzler, erleichterte Bundeskanzler – oft sagen die Gesichter, mit denen Kanzler sich auf den Weg in den Reichstag machen, mehr als tausend Worte. Oft erzählen die Bilder, die sie dabei produzieren, schon die Geschichte eines ganzen Tages.
Olaf Scholz hat an diesem Dienstagmorgen die sorgenvolle, staatstragende Miene gewählt, als er die Stufen zum Osteingang des historischen Baus hinauf huscht. In Berlin ist es kalt, über Nacht hat frischer Schnee für Durcheinander auf den Straßen gesorgt. Der SPD-Mann aber will für Klarheit sorgen. Der Kanzler will dem eigenen Land und – das Interesse der in Berlin akkreditierten Auslandskorrespondenten ist groß – der Welt erklären, wie es mit den deutschen Finanzen weitergeht.
So jedenfalls ist die Erwartung. In der Realität wird der Kanzler an diesem Vormittag Lachsalven hervorrufen und jede Menge Häme von der Oppositionsbank. Vor allem wird er die Bürgerinnen und Bürger ratlos zurücklassen, mal wieder.
Scholz hat sich bisher mit klaren Aussagen zurückgehalten
Doch der Reihe nach. Am 15. November hat das Bundesverfassungsgericht den Nachtragshaushalt von 2021 in Grund und Boden gestampft und damit die gesamte Finanzplanung der Ampelkoalition über den Haufen geworfen. Es ist bereits das zweite Mal nach dem verunglückten Heizungsgesetz, dass Deutschlands höchstes Gericht der Ampel Rot zeigt. Im Klima- und Transformationsfonds fehlen seitdem 60 Milliarden Euro, wie es mit dem Haushalt 2024 weitergeht, ist völlig unklar, und in der Ukraine und in Nahost ist Krieg.
Fragen und Herausforderungen genug also, doch Scholz hat sich bisher mit klaren Äußerungen zurückgehalten. Stattdessen überließ er die Deutungshoheit Vizekanzler Robert Habeck (Grüne) und Finanzminister Christian Lindner (FDP). Es ist daher nicht abwegig, an diesem Dienstag – endlich – eine starke Reaktion des Kanzlers zu erwarten, ein Wort der Erklärung, irgendeine glaubhafte Erwiderung auf die Krise. Und vor allem einen Plan, wie es weitergehen soll.
Scholz hat an diesem Dienstag laut Tagesordnung 25 Minuten Zeit, um die Dinge zurechtzurücken, um dem verunsicherten Land Hoffnung einzuflößen. Es könnten 25 Minuten für die Ewigkeit werden. Der Kanzler nutzt 23 davon, und zwei Minuten später ist der Eindruck seiner Regierungserklärung schon wieder verblasst.
Wenn Scholz vom eigentlichen Thema spricht, bricht Gelächter aus
Scholz beginnt mit einem Blick auf die Freilassung weiterer Geiseln im Gazastreifen. Dieser Auftakt ist menschlich verständlich, gibt den Zuschauerinnen und Zuschauern aber zunächst das Gefühl, in der falschen Veranstaltung gelandet zu sein. Immerhin ist die Stimmung im Saal da noch ernst. Als Scholz sich dem eigentlichen Thema zuwendet, der Haushaltskrise, bricht immer wieder Gelächter aus.
Heiterkeitsstürme ruft er hervor, als er die bisherige, von Karlsruhe einkassierte Haushaltsplanung mit dem Hinweis verteidigt, vieles im Umgang mit der Schuldenbremse sei „bislang rechtlich eher nicht eindeutig geklärt“ gewesen. „In dieser Lage haben wir vor zwei Jahren haushaltspolitische Einschätzungen vorgenommen, die vom Verfassungsgericht rechtlich verworfen worden sind“, sagt Regierungschef Scholz. Und der ehemalige Bundesfinanzminister Scholz schlussfolgert: „Mit dem Wissen um die aktuelle Entscheidung hätten wir im Winter 2021 andere Wege beschritten.“ Lachsalven, ein weiteres Mal.
Immer wieder ertönen Zwischenrufe, mehrheitlich von der AfD-Fraktion. Etwa dann, wenn Scholz davon spricht, dass Deutschland die Bürgerinnen und Bürger bei der Energiekrise nicht im Stich lasse. „Die Energiekrise haben Sie doch selbst gemacht, Mann!“, tönt es ihm entgegen, und: „Ach, welche Energiekrise denn?“ Die Erwartung vieler, von hohen Strom- und Gasrechnungen geplagter Menschen erfüllt Scholz nicht. Die Energiepreisbremsen sollen zum Jahresende auslaufen, da geht er mit der FDP und gegen die Grünen. Die Begründung wirkt arg zusammengesucht. „Inzwischen sind überall in Deutschland wieder Strom- und Gastarife verfügbar, die zwar deutlich höher liegen als vor der Krise, aber meist unterhalb der Obergrenzen, die wir für die Preisbremse gezogen haben, und ebenfalls spürbar unterhalb der Preise im vergangenen Herbst und Winter.“ Sollten die Energiepreise „dennoch erneut unerwartet dramatisch steigen“, sei die Ampel jederzeit bereit zu reagieren.
Olaf Scholz scheint von seiner Rede selbst nicht überzeugt
Der Blick in die Gesichter der Genossinnen und Genossen, die im Plenarsaal ihrem Kanzler bei der Arbeit zuschauen, zeigt ein Spiegelbild des Mannes auf dem Podium. SPD-Chef Lars Klingbeil etwa verzieht kaum eine Miene, blickt eher verunsichert. Mit Scholz ist es ähnlich. Er scheint von seiner Rede selbst nicht überzeugt, schaut verlegen zu seiner Fraktion, die pflichtschuldig, aber wenig begeistert mit Applaus reagiert.
Dabei hatte die noch auf einen Effekt wie im Februar 2022 gehofft. Damals sorgte die „Zeitenwende“-Rede des Kanzlers für Aufsehen und vermittelte das Gefühl, Scholz könne die versprochene Führung tatsächlich liefern. In der Union erinnern sie an den Oktober 2015, als die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel vor dem Hintergrund des starken Flüchtlingszuzugs ans Rednerpult trat. Die CDU-Politikerin sprach nicht nur von einer Krise, die „als historische Bewährungsprobe Europas zu bezeichnen“ sei. Sie verband ihr eigenes politisches Schicksal mit diesem Thema.
Scholz hingegen sorgt sogar für peinliche Momente, zum Beispiel als er an seinen Ausspruch „You’ll Never Walk Alone“ vom August letzten Jahres erinnert. In der Übersetzung bedeutet das ungefähr, dass niemand allein gelassen wird. Als Replik auf den Hohn, der ihm aus der Union entgegenschallt, schiebt der Kanzler nach kurzer Überlegung hinterher: „Ich weiß jetzt nicht, wie ich Ihren Spaß da interpretieren soll, aber vielleicht ja so: You walk without Christian Democratic Union.“ Nicht nur Unions-Fraktionschef Friedrich Merz schaut den Regierungschef indigniert an. Vielleicht hätte er den Hymnentitel dort lassen sollen, wo er hingehört – in die Fußballstadien von Dortmund und Liverpool.
Hat Scholz diesmal tatsächlich keine Antwort?
Von Befreiungsschlag keine Spur. Angesichts der Größe der Krise wirkt Scholz’ Rede fast wie eine Aussageverweigerung. Wie es nun weitergehen soll? Wo man sparen muss? Irgendeine Idee? Fehlanzeige, der ganze Auftritt ein Offenbarungseid. Ist es nur das alte Problem von Scholz – oder verrät der Auftritt eine tiefere Krise? Fehlen ihm, wie so oft, Emotionen oder hat er dieses Mal tatsächlich keine Antwort?
„Wir haben ihm schon oft gesagt, dass er in der Öffentlichkeit so agil auftreten soll, wie er es bei unseren Fraktionssitzungen intern tut. Aber er bekommt es einfach nicht hin“, so hat eine Spitzen-Sozialdemokratin das Dilemma einmal zusammengefasst. Der Kanzler wirkt bei seiner Regierungserklärung wie ein Automat, wie der „Scholzomat“, als der er schon oft gescholten wurde. Im Internet kursiert sogar bereits eine relativ echt anmutende Videobotschaft, in der Scholz angeblich ein AfD-Verbot ankündigt. Das Video ist eine mithilfe künstlicher Intelligenz erstellte Fälschung. Regierungssprecher Steffen Hebestreit wurde angesichts dessen bereits mit der Frage konfrontiert, ob der Kanzler „künftig menschlicher oder lebendiger“ sprechen wolle, um „nicht mehr mit einer KI verwechselt werden zu können“.
Markus Söder, der CSU-Vorsitzende, hat einen Tag vorher Neuwahlen gefordert, die Regierungserklärung ist nicht dazu angetan, die Gemüter in der Union zu beruhigen. Wenn Scholz so weitermache, schimpft Friedrich Merz, „dann werden wir alles dafür tun, dass der Spuk mit Ihrer Bundesregierung so schnell wie möglich beendet wird“. Der CDU-Vorsitzende darf als erster antworten, er tut das, wie später auch CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt, mit kaum verhohlenem Zorn. Ein Wort des Bedauerns wäre angebracht gewesen, auch wohl eines der Entschuldigung, kritisiert Merz. „Herr Bundeskanzler, Sie wissen doch sonst immer alles. Vor allem wissen Sie immer alles besser als alle anderen“, sagt er und lobt ausgerechnet den Spiegel für seinen jüngsten Titel „Absturz eines Besserwissers“. Es ist eine engagierte Rede, ein Engagement, das man sich vom Kanzler gewünscht hätte. Der Zweikampf um das Kanzleramt, auch das markiert dieser Vormittag im Reichstag, dieser Zweikampf hat heute begonnen.
Friedrich Merz an Scholz: "Sie können es nicht"
Merz steigert sich in einen Rausch, einen kontrollierten immerhin. „Es ist einfach nur noch peinlich, was wir von Ihnen sehen und hören“, sagt er mit Blick auf den Kanzler, der rechts neben ihm auf der Regierungsbank sitzt und kaum reagiert. Scholz greift immer häufiger zum Wasserglas, später tun er, Habeck, Innenministerin Nancy Faeser oder auch Verteidigungsminister Boris Pistorius so, als ob sie nicht mehr zuhören würden. Die Minister wischen auf ihren Smartphones, blättern in Akten, halten die Köpfe gesenkt.
Scholz sei ein „Klempner der Macht“, verglichen mit SPD-Kanzlern wie Willy Brandt, Helmut Schmidt „und sogar mit Gerhard Schröder“ müsse man feststellen: „Sie können es nicht“, schimpft Merz derweil weiter und spricht dem SPD-Kontrahenten jede Fähigkeit zur Führung ab: „Sie haben keine Ahnung von dem, was da in den nächsten Jahren auf Sie und uns zukommt.“
In der Tat hat Scholz sich zuvor vor allem der Betrachtung des Gewesenen gewidmet und auf die Corona-Pandemie sowie den Einmarsch der Russen in die Ukraine geblickt. Der Blick nach vorn reicht bei ihm nur bis zum Nachtragshaushalt 2023, den das Kabinett gerade verabschiedet hat und den der Bundestag bis Jahresende beschließen will. Seht her, was wir mit dem Geld alles Gutes machen, will er wohl sagen. So, als rechtfertige der gute Zweck die nunmehr als verfassungswidrig erkannten Mittel. Wie es mit dem Etat für 2024 aussieht, der eigentlich in dieser Woche auf der Tagesordnung stand, dazu kein Wort von Scholz. Während Lindner und Habeck auf der Regierungsbank gequält aus der Wäsche schauen, verrät Scholz zum Zeitplan nur so viel: Die Ampel werde „mit der nötigen Ruhe und Verantwortung für unser Land“ vorgehen.
Alexander Dobrindt wirft Scholz Arroganz und Respektlosigkeit vor
Der Haushaltsexperte und stellvertretende SPD-Fraktionsvorsitzende Achim Post war da zuletzt deutlicher geworden. Wenn es nach seiner Fraktion gehe, dann werde die Koalition auch den Haushalt 2024 noch in diesem Jahr hinbekommen. Es brauche schließlich Planungssicherheit, sagte er und wiederholt im Gespräch mit dem Sender Phoenix vor der Kanzlerrede die SPD-Forderung nach einer „Krisenabgabe“ für Menschen, die mehrere Hunderttausend Euro im Jahr verdienen.
In der Regierungserklärung von Scholz kommt das alles nicht vor, von Dobrindt muss er sich später „Arroganz und Respektlosigkeit“ vorwerfen lassen. Der Kanzler bleibt im Anschluss noch auf der Regierungsbank sitzen, später verschwindet er unauffällig. Manchmal ist es eben gut, wenn es nicht zu viele Bilder gibt.