Olaf Scholz kann aufatmen im Taurus-Streit. Und seine SPD strickt an der Erzählung, die ihm seine Wiederwahl als Kanzler sichern könnte und in etwa so lautet: "Es war einmal ein deutscher Friedenskanzler, der einen Atomschlag verhinderte." Ob diese Strategie trägt, ist offen, für den Moment aber muss der Regierungschef zumindest nicht mehr befürchten, dass seine Ampelkoalition auseinanderfällt. Zwar ist das Murren bei FDP und Grünen am Donnerstag im Bundestag laut, doch scheitert die Union ein weiteres Mal mit ihrem Antrag, der Ukraine die hochpräzisen deutschen Marschflugkörper zu liefern. Scholz lehnt dies seit Monaten ab, weil er befürchtet, dass die Bundesrepublik damit aus russischer Sicht eine "rote Linie" überschreite und zur Kriegspartei werde.
188 Stimmen erhält der Vorstoß, enttäuschend für CDU und CSU, die zusammen 197 Abgeordnete haben. Lediglich FDP-Vize Wolfgang Kubicki und die liberale Verteidigungsexpertin Marie-Agnes Strack-Zimmermann votieren wie angekündigt für eine Taurus-Lieferung. Für den ablehnenden Kurs des Regierungschefs stimmen 494 der 687 anwesenden Mitglieder des Bundestags – weit mehr, als die Ampelmehrheit von 416. In der Debatte zuvor sprechen sich auch Redner von AfD und Linkspartei sowie Sahra Wagenknecht gegen eine Abgabe der Marschflugkörper an die Ukraine aus. Abgeordnete wie Agnieszka Brugger (Grüne) und Alexander Müller (FDP) dagegen fordern Scholz zwar abermals eindringlich auf, die Ukraine in ihrem verzweifelten Abwehrkampf gegen den brutalen russischen Angriff zu unterstützen, kündigen aber gleichzeitig an, nicht "über das Stöckchen zu springen", das die Union ihnen hinhalte.
SPD-Fraktionschef Mützenich warnt vor Eskalation in der Ukraine
Anders als am Tag vorher, als er sich einer hitzigen Kanzlerbefragung stellen musste, tritt Scholz am Donnerstag nicht selbst vor die Abgeordneten. Es ist SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich, der für ihn den Ton setzt. "Zeitenwenden sind nichts für politische Spielernaturen. Gebraucht wird Verstand, Besonnenheit und Klarheit." All das zeichne den Bundeskanzler aus. Mützenich warnt eindringlich vor einer Eskalation in der Ukraine und als Beleg nennt er Berichte von US-Medien, nach denen Russland im Herbst 2022 möglicherweise kurz davor gestanden habe, taktische Atomwaffen gegen die Ukraine einzusetzen.
Entsprechende Hinweise der Geheimdienste, Moskau wolle angesichts der damaligen ukrainischen Militärerfolge zum Äußersten greifen, habe US-Präsident Joe Biden demnach sehr ernst genommen. Um den Kreml davon abzuhalten, habe er auch Gespräche mit China geführt. In der Folge habe Peking, das einen großen Einfluss auf Moskau besitzt, öffentlich vor dem Einsatz von Atomwaffen gewarnt.
"Das sollte uns aufhorchen lassen", sagt Mützenich. Und verweist darauf, dass auch Scholz in der fraglichen Zeit nach Peking gereist war. Nach Mützenichs Lesart hat sein Parteifreund also dazu beigetragen, eine atomare Eskalation zu verhindern. Vieles deutet darauf hin, dass es diese Vorgänge sind, auf die der Kanzler am Vortag in seinem Schlagabtausch mit Norbert Röttgen angespielt hatte. Der CDU-Außenpolitiker verfüge über Wissen, das "kein öffentliches Wissen" sei, so Scholz' Vorwurf, den Röttgen zurückweist.
Union: "Ihre vermeintliche Besonnenheit hat Putin befeuert"
Der Darstellung, Mäßigung gegenüber Russland sorge für Entspannung, widerspricht die Union vehement. Das Gegenteil sei der Fall, so Fraktionsvize Johann Wadephul (CDU). An die Adresse der SPD sagt er: "Ihre vermeintliche Besonnenheit hat Herrn Putin immer nur wieder befeuert in seiner Aggression gegen die Ukraine. Das ist das Resultat." Habe es ein Land gegeben, das sich gegenüber Russland immer zurückgehalten habe, sei das Deutschland. Nicht ein einziges Mal habe Wladimir Putin darauf positiv reagiert.
Jüngste Aussagen des russischen Präsidenten bestätigen eher Wadephuls Sicht. Putin erteilte möglichen Gesprächen über einen Waffenstillstand oder gar Frieden mit der Ukraine eine Absage. "Jetzt zu verhandeln, nur weil ihnen die Munition ausgeht – das wäre lächerlich von uns", sagte er. Und wiederholte seine oft geäußerte Drohung mit einem Nuklearschlag: "Vom militärtechnischen Standpunkt aus ist Russland bereit zum Atomkrieg."
EU-Staaten geben grünes Licht für Ukraine-Milliarden
Während die Ukraine in ihrem immer verzweifelteren Abwehrkampf also weiter ohne deutsche Taurus-Raketen auskommen muss, kann Kiew immerhin darauf hoffen, dass bald mehr dringend benötigter Nachschub eintrifft. Denn nach monatelangen Verhandlungen haben sich die EU-Staaten in Brüssel darauf geeinigt, die gemeinsame Finanzierung von militärischer Ausrüstung für die Ukraine fortzusetzen. Die Lieferung von Waffen, Munition und anderen Gütern im Wert von mindestens fünf Milliarden Euro soll damit garantiert werden.