Der Kanzler sagt sehr oft Ich. Ich sage. Ich will. Ich unterstreiche. Ich habe entschieden. Olaf Scholz hat keine Mehrheit mehr im Bundestag, die ist ihm vor einer Woche verlustig gegangen, nachdem er Finanzminister Christian Lindner gefeuert und damit das Aus der Ampel besiegelt hat. Aber jetzt, eine Woche später, tut er so, als sei er noch in ihrem Besitz. Der Kanzler gibt eine Regierungserklärung ab, doch erklärt wird wenig.
Scholz spricht lieber von wichtigen Gesetzen, die es noch zu beschließen gilt. Die Erhöhung des Kindergeldes zum Beispiel, der Schutz des Verfassungsgerichts vor dem Zugriff von Extremisten, der Abbau der Kalten Progression. „Jede Anstrengung und Mühe wert“ sei der Beschluss dieser Projekte durch das Parlament. Dass er nur noch die Grünen hinter sich hat und mit dieser Rumpfmannschaft auf den guten Willen von FDP und Union angewiesen ist, räumt er erst später ein.
Olaf Scholz berichtet von einem guten Telefonat mit US-Präsident Donald Trump, der am selben Tag seinen großen Sieg einfuhr, an dem der Kanzler seine schwerste Niederlage erlitten hat. Beide Männer verbindet derzeit, dass sie keine Macht haben. Der eine hat sie vor einer Woche verloren, der andere hat sie noch nicht zurück. Die Psychologie kennt fünf Stufen der Verarbeitung traumatischer Ereignisse. Stufe eins ist die Leugnung, und bei Olaf Scholz hört sich das so an: „Ich bin sicher, die kommende Bundestagswahl wird breiten Rückhalt bringen für diesen Kurs.“
Scholz und Merz: Zwei Männer, die sich in tiefer Abneigung verbunden sind
Ende Februar wird neu gewählt in Deutschland, der Kanzler zählt zu den unbeliebtesten Politikern des Landes. Dass etwas anders ist als vor einer Woche, ist daran zu merken, dass Scholz den Oppositionsführer Friedrich Merz um sein Entgegenkommen bitten muss. Für Scholz ist das nicht einfach. Scholz und Merz sind sich in tiefer Abneigung verbunden. Der CDU-Chef denkt nicht daran, dem Kanzler entgegenzukommen „Wir sind nicht die Auswechselspieler für ihre auseinandergebrochene Regierung“, sagt er später und kann sich ein Grinsen nicht verkneifen.
Der Oppositionsführer ist die personalisierte Wirklichkeit, die sich bei Olaf Scholz meldet. Doch Merz ist nicht ihr einziger Bote. In der Kanzlerpartei ist die Debatte zurück, ob Scholz der Richtige ist für den beginnenden Wahlkampf. Einzelne SPD-Landräte wagen sich aus der Deckung und sprechen sich für den ungleich beliebteren Verteidigungsminister Boris Pistorius als Kandidaten aus. Der Gerufene gibt sich aber loyal und klopft vor Beginn der Debatte seinem Kanzler demonstrativ auf die Schulter.
Die Dramatik des Tages ist reich an solchen Momenten unter der Kuppel des Reichstages. Da ist Scholz als ein in den Niedergang verstrickter Held, der aufspielende Herausforderer Merz, der abgefallene Freund Christian Lindner von der FDP. Reihum haben sie ihre Auftritte. Lindner, der von Scholz wie ein klappriger Gaul vom Hof getrieben wurde, zitiert in seiner Ansprache den früheren SPD-Finanzminister Peer Steinbrück. Dieser wollte bekanntlich auch einmal Kanzler werden und verlor. Tragödie kommt aus dem Griechischen und heißt Gesang der Böcke. Eigentlich sollte Wirtschaftsminister Robert Habeck das Spiel komplettieren, aber ein Defekt des Regierungsfliegers hinderte ihn an der rechtzeitigen Rückkehr aus Portugal. Selbst die Scheidung ist bei der gewesenen Ampelkoalition mit Pannen behaftet, aber welche Scheidung ist das nicht?
Nach Scholz spricht Merz, und der Oppositionsführer erinnert noch einmal daran, dass ihm alles viel zu langsam geht. Scholz habe seit einer Woche keine Mehrheit mehr im Deutschen Bundestag, „und die logische Folge hätte sein müssen, dass Sie sofort und unverzüglich die Vertrauensfrage stellen“, sagt Merz und schaut den Kanzler an, der rechts von ihm auf der Regierungsbank sitzt. Die Ungeduld des CDU-Vorsitzenden wird verständlicher, wenn man auf seine Vita blickt. Am Montag feierte er seinen 69. Geburtstag, und sollte alles nach seinen Wünschen verlaufen, wird es bei der Bundestagswahl am 23. Februar eine Mehrheit für CDU und CSU geben. Diese wiederum könnte den Weg für seine Kanzlerschaft ebnen – ziemlich genau 25 lange Jahre nach seiner ersten Wahl zum Unions-Fraktionsvorsitzenden, bei der Merz bereits einen möglichen Einzug ins Kanzleramt im Sinn hatte. Doch Angela Merkel kam ihm dazwischen. Der Sauerländer zog sich zurück. Nach seinem Comeback bewarb er sich Ende 2018 und Anfang 2021 zweimal vergeblich um den Parteivorsitz, erst im Dezember 2021 klappte es. Kein Wunder, dass Merz es kaum noch erwarten kann.
Merz regt sich auf. Über den Kanzler. Darüber, was im Plenarsaal vor sich geht.
Seit einer Woche sei die sogenannte Fortschrittskoalition aus SPD, Grünen und FDP Geschichte, sagt Merz, der das als „eine anhaltend gute Nachricht für Deutschland“ wertet. Seinem mutmaßlich baldigen Vorgänger wirft er Rückwärtsgewandtheit vor. Wer die Regierungserklärung des Kanzlers verfolgt habe, „der muss sich vorkommen wie in einer Geisterstunde“, wettert Merz und ergänzt: „Das, was Sie hier vorgetragen haben, Herr Bundeskanzler, ist nicht von dieser Welt. Sie leben offensichtlich in Ihrem eigenen Kosmos, in Ihrer eigenen Welt, Sie haben nicht verstanden, was draußen im Lande im Augenblick geschieht.“
Was im Plenarsaal geschieht, regt Merz massiv auf. Abgeordnete der AfD tippen eifrig auf ihren Smartphones, zwischendurch rufen sie laut in den Saal hinein, es geht da immer um Kritik am jeweiligen Redner. „Rumschreien“ nennt Merz das, er guckt angewidert und bekräftigt, dass es eine Zusammenarbeit mit der Fraktion vom rechten Rand nicht geben wird. „Das glauben sie doch selbst nicht, dass wir das mit so einer Gruppe Rechtsnationaler tun“, sagt er. SPD wie Grünen bietet er an, nur Themen zur Abstimmung auf die Tagesordnung zu setzen, über die man sich vorher geeinigt hat, damit keine unabsichtliche Zustimmung „mit denen da zustande kommt“. Diese da haben auch noch ihren Moment. Als AfD-Parteichefin Alice Weidel Merz als „Ersatz-Scholz“ bezeichnet, muss auch der Kanzler lachen.
Auftritt Söder: Der CSU-Chef wettert gegen die Ex-Ampel und gegen die Grünen
Nach knapp zwei Stunden tritt der Mann ans Mikrofon, auf den viele im Reichstagsgebäude besonders gewartet haben, vor allem bei der Union. Von Markus Söder, der zum ersten Mal im Hohen Haus spricht, wird erwartet, dass er die verbale Keule rausholt und auf den Kanzler eindrischt. Und der bayerische Ministerpräsident und CSU-Vorsitzende liefert.
„Was war jetzt das für ein Theater letzte Woche. Was für eine Schmierenkomödie. De facto eine Blamage“, wettert Söder. Seit Monaten gebe es Streit, seit Monaten keine Einigung, „seit Monaten Siechtum einer Regierung“. Stil- und würdelos habe Scholz gehandelt, „das halbe Land hat sich dafür fremdgeschämt“. Am Wochenende hatte der Kanzler in der ARD auf die Frage nach Unterschieden zwischen ihm und Merz erklärt, er halte sich „für etwas cooler, wenn es Staatsangelegenheiten betrifft, um es mal höflich zu sagen“. Söder zeigt sich im Bundestag ganz anderer Meinung: „Ich kenne keinen, der uncooler ist als Sie, lieber Herr Scholz.“
Im Gegensatz zu Merz nimmt Söder auch die Grünen voll ins Visier. Er finde es mutig, „dass die Grünen so tun, also hätten sie mit dem ganzen Desaster nichts zu tun“, sagt Söder. Gerade Robert Habeck sei „das Gesicht der Krise“. Er stehe für Rezession und Depression, doch anstatt „anständig zurückzutreten“, habe sich Habeck zum Kanzlerkandidaten erklärt.
„Wenn wir es nicht packen, dann haben wir bei der nächsten Bundestagswahl eine Mehrheit aus AfD und BSW“
Man fragt sich, ob die drei Kontrahenten wirklich begriffen haben, worum es jetzt politisch geht. Die Ampel-Regierung hat „die Zersplitterung des Parteiensystems beschleunigt“, wie der Chef des Meinungsforschungsinstituts Forsa, Manfred Güller, am Morgen des Rededuells festgestellt hat. Am Ende der Regierungszeit des jetzigen Kanzlers sei der Rückhalt der etablierten Parteien der alten Bundesrepublik (SPD, Union, FDP und Grüne) deutlich geringer und der Anteil der Parteien an den Rändern des politischen Systems deutlich stärker als früher, als nach dem Ende der Regierungen von Helmut Kohl, Gerhard Schröder und Angela Merkel. Bei der Europawahl im Juni etwa habe „ein Viertel aller Wahlberechtigten eine der Parteien am linken oder rechten Rand gewählt“. Wird diese Erosion ins Extreme nicht gestoppt, könnte nach der nächsten Bundestagswahl eine Mehrheit aus AfD und BSW die Mitte überflügelt haben oder mindestens in schwere Bedrängnis bringen.
Solch ein Szenario wird nach den Erfolgen der beiden Parteien bei den zurückliegenden Landtagswahlen im Osten längst auch in der Union diskutiert. „Wenn wir es nicht packen, dann haben wir bei der nächsten Bundestagswahl eine Mehrheit aus AfD und BSW“, sagt beispielsweise ein hochrangiges CSU-Mitglied – und gibt damit nicht nur eine Einzelmeinung wieder. Ein CDU-Vorstandsmitglied fordert, mit der neuen Regierung müsse es eine ganz andere Politik geben als in den letzten Jahren. In der politischen Mitte müssten wieder die Demokraten ein Angebot machen.
Ein solches wäre eine Neuauflage der Großen Koalition aus CDU, CSU und SPD. Doch an diesem denkwürdigen Tag im Parlament treten Olaf Scholz und Friedrich Merz nicht so auf, als ob sie sich ihrer Verantwortung für die Zukunft des Landes bewusst seien. Die letzte Stufe der Trauerverarbeitung ist Akzeptanz. Wenn die Tragödie ihren Lauf nimmt, dann ist Olaf Scholz schon bald ein Kanzler außer Dienst und Merz sein Nachfolger. Doch in den großen Dramen ist Platz vor unvorhergesehenen Wendungen. Darauf hofft der Kanzler.
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