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Bundesregierung: Die Grünen befinden sich im Spagat zwischen Anspruch und Wirklichkeit

Bundesregierung

Die Grünen befinden sich im Spagat zwischen Anspruch und Wirklichkeit

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    Jamila Schäfer vermisst eine "gemeinsame, anpackende Erzählung, die diese Koalition ausmacht".
    Jamila Schäfer vermisst eine "gemeinsame, anpackende Erzählung, die diese Koalition ausmacht". Foto: Stefan Puchner, dpa

    Für die Grünen ist 2022 das Jahr der Zumutungen: Endlich wieder in der Bundesregierung, muss die Parteibasis miterleben, wie ihr Spitzenpersonal einen alten Glaubenssatz nach dem anderen entsorgt. Nach dem Schock des Ukraine-Kriegs verschiebt der grüne Wirtschafts- und Energieminister den Atomausstieg, dem viele in den eigenen Reihen seit Jahrzehnten entgegenfiebern.

    Dann reist Robert Habeck sogar ins umstrittene Emirat Katar, bittet mit gesenktem Kopf um Flüssiggaslieferungen. Dabei sollte doch möglichst bald Schluss sein mit fossiler Energie. Nun wird wieder mehr Kohle verstromt, die Klimaziele müssen zurückstehen. Im Bundestag stimmt die Partei, die tiefe Wurzeln in der Friedensbewegung hat, für die massive Aufrüstung der Bundeswehr. Ihre Außenministerin Annalena Baerbock wird sogar zu einer der lautesten Befürworterinnen von Lieferungen schwerer Waffen an die Ukraine.

    Durch den Ukraine-Krieg sind die Grünen unter Druck geraten

    Vielen Grünen fällt es schwer, die Kröten, die sie schlucken mussten, zu verdauen. Jamila Schäfer, Ex-Vize-Vorsitzende der Partei, zu deren linken Flügel sie zählt, erinnert sich an die großen Hoffnungen zum Start der Ampel-Koalition mit SPD und FDP vor einem Jahr: "Die neue Bundesregierung hat sich vorgenommen, das anzugehen, was in der Vergangenheit auf die lange Bank geschoben wurde: Einen ambitionierten Ausbau der erneuerbaren Energien, notwendige Reformen des Sozialstaats, eine Modernisierung unseres liberalen Rechtsstaats."

    Mit dem eher enttäuschenden Ergebnis von 14,5 Prozent waren die Grünen aus der Bundestagswahl hervorgegangen, umso größer war dann die Freude, dass im Koalitionsvertrag grüne Themen wie der Klimaschutz breiten Raum fanden. Zwölf Monate später räumt Schäfer ein: "Das umzusetzen ist schwieriger als gedacht. Mit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine sind unser Wohlstandsmodell und die internationale Friedensordnung noch stärker unter Druck geraten als ohnehin schon durch Klimakrise und Pandemie." Unter diesem Druck sei es "schwieriger als gedacht, in der Ampel-Koalition mit drei Partnern gemeinsame Prioritäten zu finden". 

    Schäfer vermisst eine "gemeinsame, anpackende Erzählung, die diese Koalition ausmacht". Stattdessen würden die Differenzen bewusst hervorgehoben. "Das kann manchmal frustrierend sein", gibt sie zu. Es ist klar, dass sie damit hauptsächlich die FDP meint. An die Adresse des liberalen Verkehrsministers Volker Wissing richtet sie deutliche Kritik: "Bei der Verkehrswende etwa sind die offensichtlichen Anforderungen durch die Klimakrise viel größer als das, was derzeit umgesetzt wird." Wissing müsse "im kommenden Jahr deutlich mehr liefern, um die Treibhausgase zu reduzieren: Tempolimit, stärkere Investitionen in die Bahn, das Dienstwagenprivileg muss weg". Und von Finanzminister Christian Lindner erwartet sie, Vermögende stärker zur Kasse zu bitten: "Wir dürfen die Krisenlasten nicht in erster Linie bei der jungen Generation abladen. Starke Schultern können und sollten mehr tragen, auch dieser Hinweis geht an die FDP." Das gelte besonders in Krisen, in denen viel Geld bei hohen Leitzinsen mobilisiert werden muss, so die 29-Jährige. 

    Ihren Parteifreund Habeck ermahnt Schäfer: "Das 1,5-Grad-Ziel muss trotz Gasverknappung Maxime unserer Energie- und Wirtschaftspolitik sein." Entschiedenen Widerstand kündigt die bayerische Landesgruppenchefin gegen den Plan von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) an, Gas aus Westafrika zu beziehen. Im kommenden Jahr dürfe es "keine Förderung für den Neuaufbau fossiler Infrastruktur von Gasimporten im Ausland geben, wie etwa im Senegal". Im Inland wie im Ausland müsse die volle Kraft dem Ausbau von Windkraft, Solarkraft und grünem Wasserstoff gelten. 

    Stehen die Zeichen bei den Grünen vor dem Jahreswechsel also auf Streit? Ist die Leidensfähigkeit der Basis bald erreicht und kommt es dann zum großen Knall? Nicht zwangsläufig. Denn die neue ideologische Beweglichkeit hat den Grünen nach außen wohl sogar mehr genutzt als geschadet. In aktuellen Umfragen stehen sie zwischen 17 und 21 Prozent, also deutlich besser als bei der Bundestagswahl. Dagegen hat die Kanzlerpartei SPD im ersten Ampel-Jahr in der Wählergunst schmerzhafte Einbußen hinnehmen müssen.

    Jamila Schäfer von Bündnis 90/Die Grünen ist 2021 in München mit einem Direktmandat in den Bundestag gewählt worden. Zum ersten Mal seit   2009 gingen nicht mehr alle Direktmandate in Bayern an die CSU.
    Jamila Schäfer von Bündnis 90/Die Grünen ist 2021 in München mit einem Direktmandat in den Bundestag gewählt worden. Zum ersten Mal seit 2009 gingen nicht mehr alle Direktmandate in Bayern an die CSU. Foto: Kay Nietfeld, dpa

    Der kleinste Partner FDP rangiert noch deutlicher unter seinem Bundestagswahl-Ergebnis. Finanzminister Lindner nehmen es die Stammwähler übel, dass er sein Versprechen der soliden Haushaltsführung aufgegeben und Rekordschulden aufgenommen hat. Bei den Grünen könnte es umgekehrt sein: Vieles deutet darauf hin, dass ihre Sympathisanten es sogar schätzen, dass die Ökopartei in der Ausnahme-Krise nicht an alten Glaubenssätzen klebt wie eine Klimaaktivistin auf der Autobahn. 

    Zahlen sich die Kompromisse in der Wählergunst aus?

    "Die Umfragen der letzten Zeit zeigen doch: Die Bevölkerung begrüßt nicht die interne Blockade, sondern aktive Problemlösung", sagt Jamila Schäfer. So dürfe die umfangreiche Liste der offenen grünen Wünsche und Konflikte mit den Ampel-Partnern nicht darüber hinwegtäuschen, dass es auch Erfolge gebe. "Ich bin froh, dass wir trotz massiver Widerstände wichtige Entlastungen und die größte Sozialstaatsreform seit Jahrzehnten mit dem Bürgergeld, dem neuen Wohngeld und die Erhöhung von BAföG und Kindergeld auf den Weg gebracht haben."

    Das zeige, dass die Ampel-Koalition trotz ihrer unterschiedlichen Sichtweisen eben doch "zu guten und wegweisenden Kompromissen in der Lage ist". Nur müsse dies auch nach außen deutlicher gemacht und in anderen wichtigen Bereichen umgesetzt werden. "Das ist die Aufgabe für 2023", sagt Schäfer. 

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